Das Leben nach dem Tod
06.03.2004 um 18:57
Ich glaube einfach nur an den ewigen Kreislaud des Lebens. Wir sterben, werden zu erde, dann zu Gras und irgendein Tier, das irgendwann auch stirbt, isst uns dann. so gehts immer weiter.
Und unsere Seele lebt in den erinnerungen unserer Mitmenschen weiter. Durch unser "Sein" haben wir ihr Lebenbeeinflusst und wenn sie dann auch einmal sterben, leben wir in denen weiter die durch das "Sein" unserer Mitmenschen beeinflusst wurde...
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Ein anderes Ende
von Jens Gruschel
Unmittelbar nach meinem Tod stand ich in einem Gang vor einer Tür. Ich erinnere mich nicht, woher ich gekommen war, ja nicht einmal, wie der Gang hinter mir aussah. Ich war auch gar nicht auf die Idee gekommen, mich umzudrehen. Ich hatte das Gefühl, daß ich das auch nicht brauchte, weil ich glaubte, ihn genau zu kennen. Und er kam mir endlos lang vor, vor allem angesichts des kurzen Stücks, das mich noch von der Tür trennte, nur noch einen winzigen Schritt entfernt. Doch ich schien Ewigkeiten für diesen letzten Schritt zu benötigen, und je näher ich kam, desto länger schien ich zu brauchen. Ich habe mir später oft überlegt, was meine Gedanken während dieser Zeitspanne gewesen waren, denn über irgendetwas muß ich nachgedacht haben, man kann ja nicht einfach nichts denken, doch ich erinnere mich nicht. Mag sein, daß es die Frage war, was mich als nächstes erwarten würde, aber als ich eingetreten war, kam mir alles völlig selbstverständlich vor, so als hätte mir jemand zuvor alles genau geschildert. Und was mich genauso erstaunte: ich hatte mich mit meiner Situation hundertprozentig abgefunden, wenn ich auch nicht wußte, in welcher Lage ich mich eigentlich befand. Sicherlich, einen Augenblick lang war ich entsetzt gewesen, hatte an all die Menschen gedacht, die ich kannte. Was hatte ich alles unerledigt zurückgelassen? Das war im wahrsten Sinne das Wortes der Schock meines Lebens gewesen. Aber dann wiederum war ich sicher, daß ich niemandem etwas schuldete. Nicht in dieser Situation. Und eine Art Erleichterung überkam mich und ich war zufrieden mit mir selbst und der ganzen Welt. An das Erscheinungsbild des Raumes, in dem ich mich nun befand, habe ich nur wenige Erinnerungen, vielleicht besaß er auch gar kein Aussehen. Jedenfalls sah ich einen Tisch, eine Art Schalter, hinter dem ein Mann saß. Er sah ein wenig aus wie ein Beamter, gelassen und freundlich begrüßte er mich, er schien alle Zeit der Welt zu haben. Mußte ich nun meine Personalien angeben? Vielleicht würde alles in einem großen Buch notiert werden. Nein, für solcherlei Formalitäten interessierte sich der Mann keineswegs. Er plauderte einfach ein wenig mit mir.
"Schön sie zu sehen. Wie fühlen sie sich?"
"Danke. Ganz gut eigentlich. Es ist etwas ungewohnt alles."
"Natürlich. Und was haben sie jetzt vor?"
"Wie meinen sie das?"
"Welcher Religion gehörten sie denn an?"
"Spielt das eine Rolle?"
"Eine große sogar."
Er faltete seine Hände. Das ist auch ein Punkt über den ich mir im Nachhinein Gedanken machte. Vermutlich war es nur eine Angewohnheit von ihm.
"Sehen sie, es verhält sich folgendermaßen: Nach ihrem Tod tritt das ein, woran sie glauben. Wenn sie glauben, alle Menschen schweben nach ihrem Tod als Engel in den Wolken, dann werden sie in Kürze als Engel in den Wolken schweben. Ganz einfach."
Er machte eine Pause, anscheinend erwartete er eine Antwort, aber diese Erklärung hatte eine Kettenreaktion von Gedanken in mir ausgelöst, und selbst wenn ich in der Lage gewesen wäre zu antworten, ich hätte nicht gewußt, was ich hätte sagen sollen.
"Waren sie Buddhist? Christ? Moslem?"
Das war eine Frage auf die man eine Antwort geben kann. Auf solche Fragen zu antworten, werden wir erzogen, das geht ganz automatisch, man braucht nicht darüber nachzudenken, was man sagt, man sagt einfach das, was man weiß oder was einem zu sagen aufgetragen wurde.
"Christ. Katholisch."
Auf einmal dachte ich dann doch darüber nach und fügte hinzu:
"Aber ich bin mir nicht sicher, ob es das ist, woran ich wirklich glaube."
"Ich sehe schon. Das wird etwas komplizierter. Aber das ist kein Problem. Es ist meistens nicht ganz so einfach. Sie sind nicht der einzige, dem es so geht. Das kriegen wir hin. Das ist mein Job. Dafür bin ich ja hier."
"Es wäre also einfacher, wenn ich überzeugter Anhänger einer der großen Weltreligionen wäre?"
"Nicht unbedingt. Hauptsache ist, sie glauben überhaupt irgendetwas. Aber sie scheinen sich ja nicht so sicher zu sein."
"Doch."
"Ja?"
"Nun, nicht wirklich."
"Das dachte ich mir. Sie brauchen sich aber nichts daraus zu machen. Es geht vielen so. Sie würden nicht vermuten, wie vielen."
"Und als Buddhist würde ich also wirklich wiedergeboren werden?"
"Warum interessiert sie das?"
"Nur so. Aus Interesse."
"Es spielt aber keine Rolle für sie, wenn sie nicht daran glauben."
Und wieder war eine Welle von Gedanken über mich hereingebrochen. Wäre es nicht praktisch, wiedergeboren zu werden? Allerdings wußte ich nicht, in welcher Form ich denn wieder auf die Welt kommen würde. Ich fand es nicht besonders einfach, die Vor- und Nachteile abzuwägen. Vor allem hätte ich mich wohl zuvor schon damit befassen müssen, für solche Entscheidungen braucht man Zeit. Viel Zeit. Auf naive Weise versuchte ich mir etwas Zeit zu verschaffen.
"Ich interessierte mich schon immer für den Buddhismus."
"Glauben sie denn an Wiedergeburt, an ein Karma, an all diese Dinge?"
"Schon möglich."
"Sie überlegen gerade, mit welchem Glauben sie am besten abschneiden. So ist es doch. Habe ich recht?"
"Ja. In meinem Kopf drehen sich gerade sämtliche Rädchen. Sehen sie, ich weiß einfach nicht, was ich glauben soll. Als Christ lande ich womöglich noch in der Hölle."
"Es geht nicht darum, was sie gerne glauben wollen, sondern, was sie wirklich glauben."
"Als Buddhist hingegen besteht die Chance einer neuen Chance. Ein neues Leben wäre schon reizvoll."
"Sind sie sicher?"
Ich war mir alles andere als sicher, und ich schätze es gelang mir nicht besonders gut, meine Unsicherheit zu verbergen. Doch mein Gegenüber fuhr in aller Ruhe fort. Für ihn war es einfach, es war nicht sein Tod.
"Neben wir an, sie glauben daran. Sie landen wieder auf der Erde. Haben sie sich schon einmal überlegt, daß sie keine Erinnerungen an ihr bisheriges Leben haben werden."
"Ein schmerzhafter Gedanke. Offengestanden komme ich mir sehr ohnmächtig vor."
"Jeder hängt an seinen Erinnerungen. Das ist ganz normal. Und es ist sogar gut, jedenfalls solange man lebt. Danach werden Erinnerungen irrelevant. Man braucht sie nur zum leben. Wofür sollten sie danach gut sein?"
"Das sagt sich so einfach."
"Denken sie darüber nach. Es muß nicht so erschreckend sein, wie sie vielleicht annehmen."
Es war erschreckend. Da konnte er noch so ruhig zu mir reden. Jetzt erinnerte er mich irgendwie an einen Arzt. Hatte mein Kinderarzt früher nicht mit derselben Stimme geredet, wenn er mir eine Spritze verpassen wollte?
"Ich kann doch nicht einfach all die tausend Erinnerungen aufgeben. Millionen Erinnerungen."
Ich wußte nicht, wieviele es waren. Es ist seltsam mit den Erinnerungen, man kennt sie nur, während man sich erinnert, davor und danach sind sie praktisch nicht vorhanden, und doch begleiten sie einen stets, kommen und gehen, manchmal wenn man es gar nicht möchte, und dann sind sie wieder weg, und man braucht Erlebnisse, damit sie wieder kommen. Wie könnte man sagen, wieviele es waren? Zu einer Zeit war ja immer nur eine einzige vorhanden, und manchmal verschwand sie und schickte eine neue. Die meisten waren schöne Erinnerungen, vielleicht wurden sie auch mit der Zeit immer schöner, genau anders als viele Dinge in der Welt, oder die Dinge in der Welt wurden häßlicher, weil die Erinnerungen immer schöner wurden. Andere wieder waren grauenvoll, aber wollte ich auf sie verzichten? Waren sie nicht genauso ein Teil von mir? Vielleicht sogar wertvoller, weil sie mich erinnerten, was ich falsch gemacht hatte, und mich davor bewahrten, noch einmal denselben Fehler zu begehen?
"Ich brauche sie. Ich kann sie nicht aufgeben. Wie stellen sie sich das vor?"
"Es ist vorbei. Lassen sie los."
"Aber es gibt doch auch Menschen, die sich an frühere Leben erinnern."
"Die meisten sind Scharlatane. Ich selbst erinnere mich auch nicht an mein voriges Leben. Aber ich muß wohl ziemlich verrückt gewesen sein. Wie sonst wäre ich jetzt hier an diesem Platz?"
Aus dieser Sicht hatte ich es noch gar nicht gesehen. Ich betrachtete immer nur mich. Meine Vorfahren, alle waren sie gestorben. Ich hatte um sie getrauert, ja, aber hatte ich mir Gedanken über ihr Schicksal gemacht? In diesem Moment öffnete sich die Tür und ein älterer Herr trat ein. Der Mann hinter dem Tisch wandte sich ihm zu, sie wechselte ein paar Worte, von denen ich nichts mitbekam. Dann verließ der Mann auch schon wieder den Raum, diesmal durch eine zweite Tür, direkt gegenüber der ersten, die mir aber zuvor noch gar nicht aufgefallen war.
"Sehen sie, so schnell kann es gehen."
"Welche Religion hatte dieser Mann?"
"Wäre es nicht sehr indiskret, wenn ich es ihnen sagte?"
"Wieso indiskret? Es wäre nur eine weitere Erinnerung, die bald verblaßt."
"Richtig. Aber ich setze mich nicht über meine Prinzipien hinweg. Außerdem: Wollten sie, daß ich jemand anderem etwas von ihnen einfach so preisgebe, auch wenn sie wüßten, daß es nur für kurz ist? Und selbst das ist noch nicht sicher, solang wir nicht wissen, was sie denn nun glauben. Aber letzten Endes: Was hätten sie davon, es zu wissen?"
"Ich bin eben neugierig."
"Doch warum? Es ist wirklich nicht wichtig für sie, glauben sie mir."
"Wissen sie was? Sie machen es mir nicht einfach."
"Ich mache es ihnen so einfach wie möglich."
"Dann sagen sie mir, wie es jetzt weitergeht."
"Nun, da sie sich für keinen Glauben entschließen können, wird es wohl eine Verhandlung geben."
"Was für eine Verhandlung denn?"
"Das werden sie dann schon sehen."
"Na wunderbar. Und wenn ich jetzt an gar nichts glaube?"
"Das wäre nicht gut für sie. Obwohl es auch nicht weiter schlimm wäre. Dann wäre einfach nach ihrem Tod gar nichts mehr. Versuchen sie lieber nicht, sich das vorzustellen, denn das können sie sowieso nicht. Aber ich nehme ihnen das auch gar nicht ab, sie glauben ganz sicher an etwas."
"Woher wollen sie das wissen?"
"Ganz einfach. Sie glauben an mich zum Beispiel. Sonst wären sie jetzt nicht hier. Und ich wäre nicht hier. Das macht keinen Unterschied. Lassen sie es mich so sagen: Wir beide wären nicht hier."
So langsam hatte ich den Eindruck, verrückt zu werden. Und allmählich hatte ich auch keine Lust mehr auf dieses Spiel. Vielleicht sollte ich es einfach so machen wie der alte Herr. Vermutlich war er glücklich jetzt, es war genau das eingetreten, was er sich immer gewünscht hatte. Und er wird sich zufrieden sagen, daß er immer recht gehabt hat. Mich verwirrte nur etwas die Tatsache, daß er so wie ich auch an diesen Raum und seinen merkwürdigen Bewohner geglaubt haben mußte.
"Und wenn ich nun aufhörte, an sie zu glauben?"
"Das wäre recht schwierig. Ich bin inzwischen Realität für sie geworden."
"Na gut. Das will ich auch gar nicht. Es war nur ein Gedanken-Experiment. Ich schätze, ich wäre auch gar nicht in der Lage dazu."
"Wenn sie es wollten, könnten sie es schon. Aber ich möchte nicht versuchen, sie zu überzeugen. Allein schon mein Selbsterhaltungstrieb hält mich davon ab."
"Sie haben auch einen Selbsterhaltungstrieb?"
"Sie glauben an meinen Selbsterhaltungstrieb. Ohne Selbsterhaltungstrieb wäre ich nicht hier."
"Stimmt. Alle Wesen ohne Selbsterhaltungstrieb sind wohl ausgestorben."
"Die Dinosaurier hatten auch einen und sind trotzdem ausgestorben."
"Ich hatte auch einen. Hat mir das vielleicht geholfen?"
"Vielleicht mehr, als sie annehmen. Wie sind sie denn ums Leben gekommen?"
"Fragen sie nicht. Es war ein Unfall. Eine ganz dumme Sache. Aber mich trifft keine Schuld."
"Seien sie froh. Das ändert zwar nicht viel daran, daß sie tot sind, es ist aber trotzdem besser. Andernfalls wären sie sicher am Boden zerstört hier eingetroffen. Und das sage ich nicht bloß einfach so. Ich weiß, wovon ich rede."
"Ich hätte es verhindern können, wenn ich es gewußt hätte. Es ärgert mich."
"Machen sie sich nichts vor. Woher hätten sie das wissen sollen? Warten sie. Ich werde jetzt die Verhandlung einberufen. Es kann noch etwas dauern. Machen sie es sich doch solange bequem."
Also setzte ich mich auf einen Stuhl, der eben erst in meinem Blickfeld aufgetaucht war. Sicher war er schon die ganze Zeit hier. Oder hatte ich ihn eben durch meinen Glauben erschaffen? Diese Frage machte mir zu schaffen. Könnte ich ihn auch wieder verschwinden lassen? Ich schätze, ich strengte mich nicht ausreichend an, es war gut, einen Augenblick zu sitzen. Während ich wartete, kam ein zweiter Herr in das Zimmer. Er war wohl ziemlich aufgebracht, denn er redete wild gestikulierend mit dem Mann hinter dem Tisch, dessen Stimme mich nun nicht mehr an meinen Kinderarzt erinnerte. Nach einiger Zeit war das Problem dann wohl gelöst, denn der Mensch beruhigte sich und verlies mit zufriedenem Gesicht den Raum. Der Beamte, ja, so etwas in der Art schien er tatsächlich zu sein, widmete sich irgendeiner Beschäftigung, wahrscheinlich las er etwas, denn er machte ein konzentriertes Gesicht.
"Was wollte der Mann eben?"
"Haben sie ihre Neugierde immer noch nicht überwunden? Naja, es wird nicht mehr lange bis zur Verhandlung dauern."
"Und was erwartet mich dann?"
"Sie sind unverbesserlich. Aber ich will es ihnen sagen. Sie werden von drei Richtern angehört, und es wird entschieden werden, was denn nun nach ihrem Tode aus ihnen wird. Denken sie ruhig schon einmal darüber nach, was sie erzählen wollen. Aber lügen sie sich nichts vor. Das ist sinnlos."
"Wenn ich nun aber an Lügen glaube?"
"Die meisten Menschen glauben an in sich mehr oder weniger schlüssige Dinge. Manchmal gibt es welche, die glauben etwas, das sich selbst widerspricht. Das aufzulösen, kann dauern. Wir hatten schon Fälle, die tausende von Jahren in Anspruch genommen haben, was ja ein Vielfaches des Lebens selbst ist. Das passiert dann, wenn aus jeder Antwort eine neue Frage resultiert. Aber Zeit spielt hier keine so große Rolle."
"Tausende von Jahren?"
"Keine Angst, das kommt selten vor. Da muß ihr Leben schon entsprechend verwirrend gewesen sein. Selten kommt es übrigens auch vor, daß zwei Leute hintereinander so kurze Zeit hier verbringen, wie die beiden eben. Aber es gibt die merkwürdigsten Zufälle an diesem Ort. Es ist so verschieden, wie die Menschen es eben auch sind. Soll ich ihnen etwas verraten? Ich liebe meine Arbeit. Es kann höchst amüsant sein. Gleichzeitig ist es aber auch sehr tiefsinnig."
"Was meinen sie, wie lange wird es bei mir dauern?"
"Woher soll ich das wissen? Aber zerbrechen sie sich darüber nicht den Kopf, es ist wirklich nicht wichtig. Eine lange Verhandlung ist ja nichts schlimmes. Und ändern können sie sowieso nichts daran."
In diesem Moment betraten zwei sehr unterschiedlich aussehende Männer den Raum. Doch beide hatten die gleiche Kappe auf dem Kopf, und der Beamte hinter dem Schalter setzte sich ebenfalls eine Kappe derselben Art auf. Zu dritt standen sie nun vor mir, einer von ihnen hatte Papier und Kugelschreiber mitgebracht.
"Sind sie die Richter?"
"Ja, das sind wir. Guten Tag."
"Darf ich sie etwas fragen? Warum habe ich hier noch keine einzige Frau angetroffen? Seit ich tot bin, habe ich keine Frau mehr gesehen. Sie sind alle drei Männer, und die beiden Typen vorhin waren es auch. Werde ich für den Rest meines Todes nur mit Männern konfrontiert sein?"
"Nun, Frauen sterben auch, falls sie das meinen. Machen sie sich keine Gedanken, es gibt sogar Richerinnen hier. Wir haben viele separate Zimmer. Wissen sie wie viele Menschen jeden Tag sterben? Früher war es einfacher, früher sind lang nicht soviele gestorben. Es gab einfach weniger Menschen auf der Welt. Es hat sich viel geändert in letzter Zeit. Aber fangen wir an. Erzählen sie mal, was sie so alles glauben."
"Ich sagte doch schon, daß ich es nicht weiß. Ich dachte immer, ich werde es ja früh genug erfahren. Mit so etwas habe ich nicht gerechnet."
"Ich muß sie darauf aufmerksam machen, daß es seine Folgen hat, an gar nichts zu glauben."
"Nein, ich glaube an vielerlei Dinge. Ich bin mir eben nur nicht sicher."
"Das müssen sie ja auch nicht sein. Das können sie nicht einmal sein. Was meinen sie, warum es 'glauben' heißt? Aber erzählen sie, erzählen sie."
"Das Problem ist, daß sich nicht alles so ganz vereinen läßt."
"Dann trennen sie sich von den Ungereimtheiten, das hätten sie auch schon früher gekonnt."
"Aber von welchen denn nun?"
"Das müssen sie schon selbst wissen. Am Ende wird jedenfalls übrigbleiben, an was sie wirklich glauben, ihre höchsteigene Religion."
"Wenn ich nur nicht so unentschieden wäre."
"Ja, das haben wir bemerkt. Es wird lange dauern."
"Nein. Das will ich aber nicht. Ich will es jetzt hinter mich bringen."
"Schließen sie ihre Augen und lassen sie ihre Gedanken schweifen. Genau so. Sie fühlen es. Es formt sich immer klarer heraus. Irgendwann sind sie sicher, wie es wirklich ist."
Vielleicht war es Hypnose. Aber ich bin inzwischen der Überzeugung, daß er einfach recht hatte mit dem, was er sagte. Ich hatte mich zuvor nur nie getraut, auf meine innere Stimme zu hören.
"Nein! Das kann nicht sein. Das darf einfach nicht sein."
"Was ist es?"
"Ich habe es gesehen. Aber ich kann es nicht glauben. Ich kann einfach nicht!"
"Machen sie es sich doch nicht so schwer. Sie werden ihrem Schicksal nicht entfliehen."
"Aber ich kann es ihnen nicht sagen. Ich will es mir ja selbst nicht eingestehen."
"Nun reden sie schon!"
"Ich möchte aber lieber ein anderes Ende der Geschichte. Ich möchte wiedergeboren werden. Wenn es sein muß, als die niederste Kreatur, die auf Erden lebt. Oder ich möchte meinem Schöpfer gegenübertreten, und er nimmt mich in den Himmel auf. Oder laßt mich doch in einer ganz anderen Welt auferstehen, als etwas völlig anderes. Oder in einer anderen Zeit von mir aus. Die Vergangenheit hatte sicher auch ihre Reize. Und die Zukunft würde mich neugierig machen."
"Sie würden sich mit gar nichts zufrieden geben, egal an was sie glaubten. Und es gibt solch eine Unzahl von Möglichkeiten. So wie es tausend verschiedene Tode gibt. Aber jetzt befreien sie sich, bevor sie noch durchdrehen."
"Das ist es ja. Es macht mich verrückt. Und es wird mich noch verrückter machen, wenn es soweit ist. Doch ich sehe es auf mich zukommen, wie einen fahrenden Zug, dem man nicht ausweichen kann. Es gibt kein Entrinnen."
Ich gab mich geschlagen. Was hätte ich auch machen können? Es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Ich weiß nicht, ob ich es schon die ganze Zeit gewußt hatte, vielleicht war der Gedanke auch eben erst aufgekommen. Aber das spielte keine Rolle, ich würde ihn nicht mehr loswerden.
"Ich glaube... ich glaube, mein Leben war ein Traum. Und ich träume auch nur, daß ich hier bin. Und der Tot ist das Erwachen daraus."
"Und das finden sie tragisch? Sie werden es vielleicht nicht glauben, sie sind nicht der einzige, dem es so geht. Genießen sie es einfach. Was ist schlimm daran? Ob sie ihr Leben nun Traum nennen oder Realität, was macht das für einen Unterschied? Wissen sie was? Sie haben es gar nicht mal so schlecht erwischt. Außerdem vergißt man Träume oft nach dem Erwachen. Aber ich kann mir vorstellen, sie wollen ihren Traum gar nicht vergessen. Nun, wir werden sehen. Denken sie darüber nach. Sie haben genug Zeit dafür. Und wenn sie glauben, die Zeit reicht ihnen nicht, dann holen sie sich welche in ihren Träumen."
"Aber ich werde niemals sicher sein. Ich werde ständig mit der Ungewißheit leben müssen."
"Denken sie auch darüber nach. Sie werden ihre Antworten finden. Überlegen sie, was ihnen wirklich wichtig ist. Sie schaffen das, da bin ich völlig sicher. Ich darf ihnen noch sagen, daß es interessant war, sie kennengelernt zu haben. Obgleich natürlich noch interessantere Menschen hier waren, das können sie mir glauben."
Ich wußte keine Antwort. Sollte ich mich bedanken? Ich handelte, ohne zu denken. Ich dachte an andere Dinge. Ich kann nicht sagen, ob ich ihm die Hand gab, ob ich mich überhaupt verabschiedete. Ich hörte nur ganz weit entfernt seine Stimme.
"Darf ich sie nun bitten, uns durch diese Tür zu verlassen? Einen schönen Tag wünsche ich noch. Oder sollte ich sagen, einen guten Morgen?"
Ich taumelte auf die Tür zu, sah vor mir einen endlos langen Gang, der sich aber nicht in Dunkelheit oder Nebel verlor, man konnte bis zum Ende sehen und doch gab es kein Ende. Trotzdem hatte ich ihn in Windeseile durchschritten, es war genau umgekehrt wie zuvor, je länger ich unterwegs war, desto schneller bewegte ich mich, und am Ende hatte ich das Gefühl, praktisch nicht die geringste Zeit für das Durchlaufen dieser Unendlichkeit benötigt zu haben. Wie ich befürchtet hatte, fand ich mich in einem Bett wieder. Es war ein Krankenhausbett. Ich hatte Schmerzen. Das, was ich geträumt hatte, kam mir wahnsinnig realistisch vor.
Wenn du mit dem Finger auf andere zeigst vergiss nicht, dass drei deiner Finger auf dich selbst zeigen!