Mesmerismus
03.06.2005 um 12:49
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Mesmerismus und romantische Medizin
Immer wieder stößt man in der Literatur um 1800 auf den Begriff "Mesmerismus" oder "Thierischen Magnetismus". In dieser Zeit der sich allmählich weitenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse, der tastenden Versuche in Medizin und Psychologie, der angehenden Entdeckung der unbewußten psychischen Kräfte nimmt die Theorie Franz Anton Mesmers eine Sonderstellung ein.
Mesmerismus in Preußen
Die staatliche Untersuchung A. K. Emmericks ging immerhin auf eine Veröffentlichung Baehrens über den "animalischen Magnetismus" zurück, in welcher auf den Fall der Dülmener Kranken eingegangen wird. Im Tagebuch Weseners wird von den wochenlangen magnetischen Experimenten Christian Brentanos an der kranken Nonne berichtet. Christian Brentano war zwar vom Wunderglauben durchdrungen, dennoch studierter Arzt. Wesener selbst nahm keine mesmerischen Experimente vor, immerhin war er aber doch Schüler eines der prominentesten Mediziners der Romantik. Wesener hatte bei Reil in Halle studiert und kann als aufgeklärter Arzt gelten, der auch eigene Forschungen zur Wirkung des Mutterkorns betrieb. Die Theorie von den magnetischen Kuren war Gegenstand einer breiten Diskussion um die Naturphilosophie und spaltete die medizinische Fachwelt. Tatsächlich wurde die Idee des tierischen Magnetismus nach 1830 als überholt aufgegeben. Zum Niedergang hatte die Verbreitung durch Scharlatane beigetragen, zum anderen war das Umfeld, in dem die Kuren stattfanden oft obskur, der Anwendung der Kuren haftete häufig die Aura der Sensation an. Um 1816/17, also zu der Zeit als Christian Brentano in Dülmen seine Experimente vornahm, war die mesmerische Theorie eigentlich schon veraltet, zwischenzeitlich sogar fast vergessen, aber noch durch nichts Neues ersetzt. Besondere Bedeutung erlangte der Mesmerismus in Deutschland, weil die Romantiker und die Naturphilosophie sich seiner annahmen. Mesmers Therapiekonzept faszinierte die Romantiker wie kaum ein anderes, die bekannteste literarische Verarbeitung ist im "Magnetiseur" und "Der unheimliche Gast" von E.T.A. Hoffmann erhalten. Ebenso nahm Kleist ("Die Marquise von O.", "Das Käthchen von Heilbronn") und Jean Paul ("Der Komet") das Thema auf.
1812 setzte die Regierung von Preußen zum Mesmerismus eine offizielle Untersuchungskommission ein, deren 1816 veröffentlichte Berichte günstig lauteten; daraufhin errichteten die Universitäten Berlin und Bonn Lehrstühle für Mesmerismus. Zu den romantischen Neuerern der Medizin zählte der Arzt Karl Christian Wolfart. Er widmete sich der Verbreitung des Mesmerismus in Preußen. Wolfart besuchte 1812 den schon fast vergessenen Mesmer und war erstaunt, daß dieser ausschließlich französisch sprach. Er übersetzte das letzte Buch Mesmers, das nicht nur die letzte Übersicht über sein System enthielt, sondern auch Mesmers Ansichten über Erziehung, Gesellschaftsleben, öffentliche Festlichkeiten, Steuern, Gefängnisse usw.. 1817 wurde Wolfart zum Professor für Naturphilosophie in Berlin ernannt. Seine Praxis war vielbesucht, von ihm ließen sich der Staatskanzler Hardenberg, Bismarcks Mutter, Caroline v. Humboldt, Schleiermacher, Savigny und Fichte behandeln. Es ist anzunehmen, daß Brentano über Wolfarts Praxis und den Mesmerismus schon durch die prominenten Patienten gut unterrichtet war, immerhin war Savigny ein alter Freund und sein Schwager. Brentano, Kleist und Wolfart gehörten um 1810 gemeinsam der Christlich Deutschen Tischgesellschaft an. Auch mit E. T. A. Hoffmann, dem Literaten des Mesmerismus, pflegte Brentano in dieser Zeit regelmäßigen Umgang. Der Besuch seines Bruders Christian, einem überzeugten Mesmeristen, im Winter 1817 muß Brentanos Kenntnisse weiter vertieft haben, seine hierognostischen Experimente an der Emmerick weisen in diese Richtung. Carl Gustav Carus, einer der bekanntesten romantischen Mediziner und Maler aus Dresden, verbrachte den Winter 1816/17 in Berlin und beschreibt in seinen Erinnerungen eine magnetische Sitzung in der Praxis von Wolfart:
Ich machte zuerst Wolfart selbst meinen Besuch und fand einen kleinen, etwas untersetzten Mann mit einem gewissen unsteten Blick und geschäftigem Wesen, welcher mir alsbald die Erlaubnis gab, einer magnetischen Abendsitzung beizuwohnen. Ich hätte gern gesehen, daß er mir vorher die Experimente an der Magnetnadel vorgezeigt hätte, von denen damals in einem von ihm herausgegebenen magnetischen Journal - "Asklepiäon" genannt - und sonst vielfach gesprochen wurde, aber ich war nicht so glücklich. Er behauptete nämlich, allein durch seine magnetische Kraft die Magnetnadel ablenken zu können, wovon indes die Berliner Physiker, Humboldt an der Spitze, durch nichts wissen wollten.
Als ich nun abends in das Heiligtum des Magnetismus eingeführt wurde, bot sich mir ein sonderbarer Anblick dar. Der ziemlich große Saal war spärlich erleuchtet, man trat ein unter herabrollenden Vorhängen, und rings an den Wänden standen hinter ähnlichen Vorhängen und spanischen Wänden Sofas und Armsessel in noch tieferm mystischen Dunkel. In der Mitte des Saales stand das große Bacquet. Man kann in Mesmers und Puysegurs Schriften nachlesen, wie aus Feilspänen, Glasscherben, Kohlen usw. mit einer durchgehenden Eisenstange ein solcher magnetischer Kondensator konstruiert werden soll; hier sah die Maschine aus wie ein großer, aber nicht hoher Ofen, aus dem eine starke Eisenstange heraufragte, an welcher weiter oben eine Anzahl breiter bunter Wollenbänder befestigt waren, deren eins jede der Kranken, die im Kreise auf Stühlen um das Bacquet saßen, mit dem freien Ende in die eine Hand bekam, damit dann mit der andern Hand durch regelmäßiges Herabstreichen das magnetische Fluidum den Nerven zugeführt werden könne, was nach der Gläubigen Meinung in dem Eisenstabe aufsteige und durch die leitenden Bänder sich ausbreite.
Man denke sich denn die seltsame Erscheinung: in all diesem Halbdunkel und zwischen all den Schirmen und Vorhängen eine Anzahl von zehn oder zwölf Kranken, meistens Frauen und Mädchen, die in größter Stille mit Streichen an jenen Bändern einen geheimnisvollen Selbstmagnetismus ausübten! Zwischendurch schritt Wolfart gleich einem Magier umher, hier und da hörte man ein leises Flüstern über die kommenden oder ausbleibenden Wirkungen, und plötzlich mußte auch wohl eine der in Schlaf fallenden Kranken (mir schien mehr Langeweile, Affektation, höchstens auch wohl überreizte Imagination die Ursache) fortgeführt oder fortgetragen werden, um dann auf einem der Sofas oder Armsessel hinter den Schirmen nun den sogenannten magnetischen Schlaf- und Traumzustand abzuwarten. Ich gab ziemlich lange einen Zuschauer dieses etwas unheimlichen Schauspiels ab und hätte freilich wohl, bevor ich ging, etwas tiefer in die Geschichte aller der dort Streichenden und Schlafenden eindringen mögen; etwas romanhafte Verhältnisse würden sich dabei öfters herausgestellt haben!
Die Beschreibung der Sitzung bei Wolfart vermittelt ein Bild, das an der Ernsthaftigkeit therapeutischer Bemühungen Zweifel aufkommen läßt. Trotz dieses Eindrucks war die Untersuchung der magnetischen Phänomene Gegenstand seriöser Forschung.
Das Konzept des Mesmerismus
So obskur diese Beschreibung auch klingen mag, die magnetische Theorie Mesmers wurzelt nicht im Wunderglauben der Romantik, sondern fest in der Aufklärung. Sie war ein Produkt von empirischer Beobachtung und begründet im Wissensstand der Zeit. Von Wunderglauben kann zumindest zu Beginn des Mesmerismus kaum die Rede sein. Erst die Sensationslust und die Nähe zu Jahrmarktattraktionen hat den Ruf des Mesmerismus erschüttert. Ähnlich erging es später der Hypnose, die auch heute noch einen etwas zweifelhaften Ruf genießt, obwohl sie in der Entwicklung der Psychotherapien ihren festen Platz hat und zuweilen noch eingesetzt wird.
Psychotherapeutische Konzepte, die Mesmer vorausgegangen waren, gab es eigentlich nicht. Psychotherapie, soweit man diesen Begriff überhaupt in diesem Zusammenhang verwenden kann, bezog sich vor Mesmer auf religiöse Zusammenhänge. Die allgemeine Vorstellung war, daß die Kranken von einem bösen Geist, also vom Teufel, besessen wären und die Patienten von diesem Geist befreit werden müßten. In der primitiven Medizin ebenso wie im Katholizismus gibt es die Möglichkeit, den Patienten von dem "Übel" zu befreien, indem das Schlechte aus dem Körper des Kranken entfernt wird. Dies geschieht mit Hilfe magischer Rituale, häufig wird das Übel verdinglicht den staunenden Anwesenden präsentiert. Nicht anders im Katholizismus, der noch heute das Amt des Exorzisten kennt. Allerdings war eine Teufelsaustreibung in der Regel mit einer unangenehmen Konsequenz verbunden. Besessenheit wurde mit Hexerei gleichgesetzt, und Hexen wurden verbrannt. Die letzte Hexenhinrichtung war die der Anna Göldi 1782 in Glarus in der Schweiz.
Tradition und Aufklärung: Gassner und Mesmer
In den Kontext der exorzistischen Heilungen gehörte der württembergische Landpfarrer PaterJoseph Gassner. Er exorzierte außerordentlich erfolgreich, zog große Menschenmengen an und heilte Patienten in Gegenwart katholischer und protestantischer kirchlicher Würdenträger, Ärzte, adliger und bürgerlicher Zeugen. Seine Methode bestand darin, die Krankheit auf lateinisch aus den Kranken herauszubefehlen, was erstaunlicherweise meist gelang. Gassner verfaßte 1774 ein Büchlein, in dem er seine Heilmethode erklärte. Er unterschied zwei Arten von Krankheiten: natürliche, die in die Behandlung eines Arztes gehörten und übernatürliche, die er in drei Kategorien einteilte: circumcessio (vom Teufel nachgeahmte Krankheit), obsessio (Hexenwirkung) und possessio (offenkundige Teufelsbesessenheit). Der Patient mußte zuerst in einen Probe - Exorzismus einwilligen, darauf beschwor er den Dämon, die Krankheitssymptome hervorzubringen; wenn die Symptome erschienen, hielt Gassner es für bewiesen, daß die Krankheit von einem Teufel verursacht war, er konnte ihn dann austreiben. Wenn sich keine Symptome zeigten, schickte er den Patienten zum Arzt. Da sich Gassner beide Heilungsoptionen offenhielt und die Besessenheit heilte, statt deren Träger zu vernichten, kann er sicherlich zur katholischen Aufklärung gerechnet werden.
Gassner ließ sich 1774 / 1775 in Ellwangen nieder und angesichts seiner Erfolge - Patienten strömten massenhaft in das Städtchen - erhob sich ein Sturm von Kontroversliteratur und Polemik. Der öffentliche Streit um Gassners Heilungserfolge ließ die Kirchenoberen vorsichtig werden - die Stimmung gegen die Kirche war ohnehin gereizt, 1773 wurde der Jesuitenorden aufgehoben. Gassner durfte nur noch ihm zugewiesene Patienten behandeln. Der Fürstbischof von Regensburg ordnete eine Untersuchung an, ebenso scheint eine Untersuchung vom Wiener Hof ausgegangen zu sein, eine weitere Kommission berief der bayerische Kurfürst Max Joseph. Diesem Gremium gehörte der Arzt Franz Anton Mesmer an.
Die Konfrontation Gassners mit Mesmer im Jahr 1775 bezeichnet der wohl renommierteste Psychiatriehistoriker Henri F. Ellenburger als das Entstehungsdatum der dynamischen Psychiatrie. Mesmer war gerade von einer Reise den Rhein entlang von Konstanz gekommen und behauptete, ebenfalls wunderbare Heilungen vollbringen zu können. Am 23. November 1775 veranstaltete er in München eine Demonstration, in deren Verlauf er nur durch die Berührung seines Fingers bei Patienten das Auftreten und Verschwinden verschiedener Symptome, sogar Krämpfe hervorrief. Am folgenden Tag rief er in Gegenwart von Mitgliedern des Hofes bei einem Epileptiker Anfälle hervor und behauptete, er könne mittels tierischem Magnetismus heilen. Dies alles entsprach Gassners Vorgehen, nur ohne die Anwendung von Exorzismus. Mesmer behauptete nun, Gassner würde durch tierischen Magnetismus heilen, ohne es zu merken.
Gassner wurde in der Folge in eine kleine Gemeinde namens Pondorf versetzt, wo er 1779 verstarb. Die Kirche distanzierte sich öffentlich, ja Papst Pius VI setzte sogar eine Untersuchungskommission ein. In den Kontroversen um Gassner, Exorzismus und nun auch Mesmerismus ging es um den Kampf zwischen Aufklärung und Tradition. Mesmers Heilmethode war nicht mehr mit religiösen Voraussetzungen verbunden, sie entsprach den allgemeinen Ansprüchen der Aufklärung. Mesmer selbst empfand sich als Rationalist und Aufklärer. Der sterbende Mesmer verzichtete beispielsweise auf kirchliche Gnadenmittel und stellte seine Leiche testamentarisch der Wissenschaft zur Sektion zur Verfügung. Allerdings irrte Mesmer, was die Wirkungsweise seiner Entdeckung betraf.
Theorie des Mesmerismus
Mesmerismus und alle anderen Spielarten der Medizin um 1800 kreisten um drei Hauptphänomene, die Ergebnisse der aufgeklärten medizinischen Empirie darstellten: Irritabilität der Muskulatur, Sensibilität der Nerven und Sympathie der Organe. Alle Phänomene werden durch ein Fluidum, ein irgendwie vitaler Botenstoff, vermittelt. In der Romantischen Medizin kam dann noch die metaphysische Deutung hinzu.
Die Entdeckung von Irritabilität der Muskulatur geht auf den Schweizer Arzt Albrecht von Haller (1708 - 1777) zurück. Haller bezog sich auf die Lehre Stahls, daß im ganzen Körper ubiquitär die Seele anwesend sei. Die Seele wirke als immaterielle Substanz auf die materielle, ein Vorgang, der im ganzen unverstanden blieb. Haller bewies im Jahr 1752, daß die Muskelfaser die Eigenschaft besitzt, sich auch unabhängig vom Nervensystem zusammenzuziehen, die Seele also nicht die antreibende Kraft sei. Diese von der Seele unabhängige Eigenschaft nannte er "Irritabilität" (Reizbarkeit). Die zweite Entdeckung Hallers war eine direkte Konsequenz der ersten, nämlich die Empfindsamkeit der Nerven, genauer des Nervenmarks, die in den Muskelfasern liegen. Weil die Nervenfaser sich auf einen Reiz hin nicht verkürzte, sondern "fühlte", war sie nicht irritabel, sondern sensibel. Irritabilität und Sensibilität wären demnach scharf zu trennen. Aus der Irritabilität entwickelte Cullen und nach ihm Brown eine Erregungstheorie, die Krankheit als zu wenig oder zu stark erregte Nervenzustände interpretierte. Aus dieser Schule, die um 1800 große Bedeutung erlangte, stammen noch heute übliche umgangsprachliche Begriffe wie die der angespannten oder überspannten Nerven, Abgespanntheit usw.. Auch der Begriff "Neurose", also Nervenkrankheit ist hiervon abgeleitet, wobei völlig klar sein sollte, daß eine psychische Erkrankung kaum auf die "Verspannung" von Nerven zurückgeht oder daß "Nervenspannung" überhaupt für irgendetwas von Bedeutung ist.
Sympathie der Organe meint, daß Organe sich gegenseitig beeinflussen, eine Annahme, aus der sich später die Reflextheorien entwickeln werden. Dabei wird ein Organ als Schlüsselorgan für alle anderen angesehen, bzw. man hoffte, durch die Reizung eines bestimmten Organs die Psyche beeinflussen zu können. Ein letztes Aufbegehren dieser Theorie waren die Versuche Freuds und Fließ' an der Nase, die dann mit der niederschmetternden Verstümmelung einer Patientin endeten. Neuerdings werden die Reflextheorien wieder in Massage und fernöstlichen Behandlungspraktiken wie Akupunktur oder Thai 'Chi wiederbelebt. Diese Praktiken weichen ,obwohl sie ähnliche Grundannahmen teilen, voneinander erheblich ab, weil in jeder Schule die "Meridiane" - also die Wirkpunkte - unterschiedlich lokalisiert und definiert sind.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die "Irritabilitätslehre". Spätestens ab 1770 gab es keine medizinische Veröffentlichung mehr, in der die Irritabilität keine Rolle gespielt hätte. Die Entdeckung Hallers erfuhr alsbald eine vitalistische Interpretation, das Fluidum wäre dabei der vermittelnde Stoff.
Hintergrund der Mesmerschen Theorie vom animalischen Magnetismus und aller anderen medizinischen Theorien jener Zeit war die Entdeckung der verschiedenen Phänomene der Elektrizität. Die Erfindung der Elektrisiermaschine durch Guericke im 17. Jahrhundert, der Leidener Flasche durch Kleist und Musschenbroek (1743) und der Voltaschen Säule (1800) stellten erstmals geeignete Stromquellen für Versuche zur Verfügung. Die Experimente erbrachten spektakuläre Resultate, in denen man die tiefsten Geheimnisse der Natur zu erkennen glaubte. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts standen elektrische Vorführungen im Mittelpunkt eines staunenden Publikums. Sie waren die große Attraktion in den Salons und den Jahrmärkten, man ließ aus Menschen Funken fahren und damit Weingeist entzünden, elektrisierte die Damen der Gesellschaft und ganze Regimenter oder gab, wie Benjamin Franklin, ein elektrisches Gastmahl, bei dem ein Truthahn durch einen elektrischen Schlag getötet wurde.
Die vielfältigen und spektakulären Phänomene der Elektrizität, die das Mineral-, Pflanzen- und Tierreich mit dem Menschen umfaßte, die Licht, Wärme und Anziehung, Geruchs-, Geschmacks- und Schmerzsensationen hervorbringen konnte und als Blitz vom Himmel kam, legte es nahe, in diesem materiellen Fluidum die Grundkraft der Welt zu sehen, die überall verbreitet, jetzt sichtbar und wissenschaftlich erforschbar wurde.
Besonders die Entdeckung Galvanis sollte für die Medizin um 1800 und danach ungeahnte Folgen haben. Galvani entdeckte 1780 die Kontraktion präparierter Froschmuskeln beim Überschlag elektrischer Funken. 1786 zeigte er, daß diese Reaktion auch dann eintritt, wenn der Muskel lediglich mit zwei verschiedenen miteinander verbundenen Metallen in Kontakt gebracht wird. Galvanis Experimente brachte für die Naturphilosophie den Nachweis, daß es sich bei der Elektrizität um das Fluidum handelte, welches die Selbstbewegung der Natur, das gestaltende Lebensprinzip darstellte. Das elektrische Fluidum stellte die Verbindung zwischen Körper und Geist her.
Die enge Verwandtheit magnetischer und elektrischer Phänomene war bekannt, ebenfalls die Erzeugung und Beeinflußbarkeit des Magnetismus durch Elektrizität. Die Erscheinungsformen des Magnetismus waren weithin erforscht, um 1650 stellte der Magnetismus einen entwickelten Wissenschaftszweig dar. Im 18. Jahrhundert trat er gegenüber der Elektrizität in den Hintergrund. Hinter beiden Naturphänomenen vermutete man eine einheitliche Naturkraft, die jedoch in unterschiedlichen Emanationen auftrat. Träger dieser Kraft wäre ein Fluidum, also ein angenommener flüchtiger Stoff, dem die Fähigkeit zugeschrieben wurde, Eigenschaften oder Wirkungen zu übertragen. Der entscheidende Unterschied zwischen dem magnetischen und dem elektrischen Fluidum bestand darin, daß das eine die Fähigkeit hatte Körper zu durchdringen, das andere auf Leiter beschränkt blieb. Aus diesem Grunde unterstellte man dem elektrischen Fluidum eine korpuskelhafte, also materielle Existenz, während man bei der magnetischen Erscheinung von einem immateriellen Fluidum ausging. Aus diesem Grunde schrieb man dem magnetischen Phänomen psychische Wirkkräfte zu, der Elektrizität, weil körperlich gebunden, aber nur eine auf Nerven und Muskeln beschränkte Wirkung. Galvanis Experimente bestätigten, daß Elektrizität auf organische Substanz, in diesem Fall Muskeln, einen bewegenden Effekt hatte, die Vorstellung von einer besonderen animalischen Energie wurde somit bekräftigt. Aus dieser Vorstellung entwickelte Mesmer seine Theorie vom "animalischen oder tierischen Magnetismus", einer magnetischen Kraft, über die fluidale Prozesse innerhalb des Körpers manipuliert werden könne. Laut Mesmer besitzt jeder Mensch eine gewisse Menge von tierischem Magnetismus; Gassner hätte sehr viel davon, Mesmer etwas weniger, die Kranken etwas weniger als die Gesunden.
Mesmers System, wie er es 1779 in 27 Punkten darlegte, läßt sich in vier Grundprinzipien zusammenfassen: 1.) Ein subtiles physikalisches Fluidum erfüllt das Universum und stellt eine Verbindung zwischen dem Menschen, der Erde und den Himmelskörpern her, ebenso zwischen den einzelnen Menschen. - 2.) Krankheiten entstehen aus der ungleichen Verteilung dieses Fluidums im menschlichen Körper; die Genesung wird erreicht, sobald das Gleichgewicht wieder hergestellt ist. - 3.) Mit Hilfe bestimmter Techniken läßt sich das Fluidum kanalisieren, aufbewahren und anderen Personen übermitteln. - 4.) Auf diese Weise lassen sich bei Patienten "Krisen" hervorrufen und Krankheiten heilen.
Mesmer verwendete, abgesehen von magnetischem Wasser, keine Medikamente. Er pflegte seinem Patienten gegenüber zu sitzen, dabei berührten seine Knie die Knie des Patienten, er hielt die Daumen des Patienten fest in seinen Händen und sah ihm starr in die Augen, dann berührte er sein Hypochondrium (Oberbauch) und strich ihm über die Glieder. Viele Patienten hatten dabei eigenartige Empfindungen oder verfielen in eine Krise. Diese Krise sollte die Heilung herbeiführen.
Durch den großen Andrang sah sich Mesmer genötigt, Techniken zur Kollektivbehandlung zu entwickeln, er behandelte bis zu zwanzig Patienten gleichzeitig. In die Mitte eines Raumes stellte er ein Gefäß, das sich "bacquet" oder "Gesundheitszuber" nannte. Dieses Gefäß enthielt magnetisierte Materialien, Wasser, Sand oder Glas. Aus dem Bacquet ragten entsprechend der Anzahl der Teilnehmer Eisenstäbe, die unterschiedlich lang waren, so daß sie diejenigen Körperstellen erreichen konnten, die betroffen waren. Außer den Stäben gab es ein Seil, das einen Patienten mit dem Baquet verband und von ihm zum nächsten führte, bis alle miteinander verbunden waren. Die spürbarste Wirkung wurde durch Mesmers Anwesenheit hervorgerufen, der den Patienten sein Fluidum mittels bestimmter Bewegungen seiner Hände oder Augen zuführte. Die ganze Umgebung war mit verstärkenden Gegenständen versehen. Große Spiegel reflektierten das Fluidum, magnetisierte Instrumente strömten mit ihrer Musik das Fluidum aus. Bemerkenswert war die Glasharmonika, welche ohrenbetäubende Töne erzeugte. In diesem "setting" warteten die Patienten, bis sich eine Krise einstellte. Manchmal setzte sich eine Krise von einem Patienten zum anderen fort. Noch absonderlicher war die Kollektivbehandlung für Arme. Diese fanden im Freien statt, wobei sich die Teilnehmer um einen magnetisierten Baum versammelten.
So ungewöhnlich dieses Verfahren erscheint, so war Mesmer durchaus kein Scharlatan, sondern ein Arzt, der ausgehend von den Erkenntnissen seiner Zeit neue Heilmethoden suchte. Mesmer stammte aus Meersburg am Bodensee, studierte ab 1759 in Wien, belegte nach der Jurisprudenz die Medizin und schloß 1765 das Studium mit seiner Dissertation über den Einfluß der Planeten auf die menschlichen Krankheiten ab. In dieser Arbeit entwickelte Mesmer die Theorie der "Gravitas universalis", eine Idee die entsprechend des entwickelten mechanistischen Denkens seiner Zeit sozusagen in der Luft lag. Mesmer bezog sich auf Kepler und besonders auf Newtons Gravitationsgesetze, wonach sich alle Körper gegenseitig anziehen. Diesem Gesetz sind auch alle lebenden Körper unterworfen. Mesmer folgerte daraus, daß die großen, sich bewegenden Himmelskörper durch ihre Konstellation nicht nur das Meer und die Erdatmosphäre beeinflußten, sondern auch die festen und flüssigen Bestandteile der Lebewesen. Das Medium dieser Einwirkung sei eine über alle Himmelsräume ergossene "Potentia", die "Gravitas universalis". Der menschliche Organismus ist infolge dieses unsichtbaren Agens, das sich in das gesamte Nervensystem mittels des Nervenfluids in den Körper einschleicht, ebenfalls Ebben und Fluten unterworfen, auf die er so abgestimmt sei, daß er sie nicht besonders wahrnimmt. Individuelle Konstitution, das Temperament, die Lebensweise usw. könnten die natürliche Verteilung erschüttern, der Mensch würde also krank.
Nach der Promotion erhielt Mesmer Sitz und Stimme in der Wiener medizinischen Fakultät. Er ließ sich als Arzt nieder und heiratete 1767 die vornehme und reiche Witwe Maria Anna von Posch. Durch die Heirat, das Vermögen und seine akademische Stellung gehörte er zur privilegierten Welt. Zu den Freunden des Hauses zählten die Musiker Gluck, Haydn und die Familie Mozart. Die erste Oper des jungen Mozart, Bastien und Bastienne, wurde in Mesmers Privattheater uraufgeführt.
In den Jahren 1773 - 1774 behandelte er in seinem Hause die 27-jährige Patientin Österlin. Verschiedene französische Ärzte experimentierten mit Magneten: Der mit Mesmer befreundete Hofastronom Maximilian Hell stellte ebenfalls mit starken, dünnen Stabmagneten medizinische Versuche an, mit denen er die Magenkrämpfe einer Baroneß besserte. Mesmer griff diese Idee auf. Er ließ seine Patientin ein eisenhaltiges Präparat einnehmen und versuchte durch einen Magneten ein künstliches Hochwasser im Körper der Kranken zu erzeugen. Diese ungewöhnliche Kur schlug bei der Patientin prompt an, sie fühlte die Ströme durch ihren Körper wallen und alsbald war sie geheilt.
Das Experiment, das am 28. Juli 1774 stattfand, war der Beginn des Mesmerismus. Mesmer begriff, daß diese Wirkung nicht allein durch die Magneten hervorgerufen sein konnten. Er verband seine Beobachtungen mit seiner Theorie der "gravitas universalis", die er schon in seiner Doktorarbeit entwickelt hatte. Er mutmaßte, daß die magnetischen Ströme in der Patientin durch ein Fluidum hervorgerufen wurden, das sich in seiner eigenen Person akkumuliert hatte. Er nannte dieses Fluidum "tierischen Magnetismus". Der Magnet sei nur ein Hilfsmittel zur Verstärkung dieses tierischen Magnetismus und gab ihm eine Richtung.
Mesmer behandelte in der Folge weitere Patienten nach seiner Methode, spektakulär war die Reise in die Slowakei, wo er den ungarischen Baron de Horka magnetisch behandelte. Die Wiener Ärzteschaft stand seinen Heilerfolgen jedoch gleichgültig bis feindselig gegenüber. Eine Behandlung, die vermutlich die Ursache für Mesmers Abreise aus Wien war und später in Paris für ihn unangenehme Folgen haben sollte, war die an Maria Theresia Paradies. Die Jungfer Paradies war die 18-jährige Tochter eines wohlhabenden und einflußreichen Staatsbeamten. Diese war seit ihrem Alter von dreieinhalb Jahren an blind gewesen. Ihr größtes Talent war die Musik, was ihr die Aufmerksamkeit und Protektion der Kaiserin Maria - Theresia einbrachte. Die angesehendsten Ärzte Wiens hatten sie ohne Erfolg behandelt, sie war sogar mehr als 3000mal elektrisiert worden. Nach einer Reihe magnetischer Sitzungen erklärte sie, wieder sehen zu können. Ihre früheren Ärzte bestritten die Realität der Heilung, eine Ärztekommission betonte, die Patientin behaupte, nur in Mesmers Gegenwart zu sehen. Zwischen Mesmer und der Familie des Mädchens kam es zum Konflikt, die Patientin verlor endgültig die Sehkraft. Ganz augenfällig ist hier die Parallele zu anderen Fällen der frühen Psychotherapie. Bei den Leidenden handelt es sich jeweils um junge Frauen: Jungfer Österlein und Maria - Theresia Paradis stehen in einer Reihe mit hunderten Anderen, die im 19. Jahrhundert unter dem Rubrum "Hysterie" erscheinen. In diese Reihe gehören sowohl Bertha Pappenheim, die Patientin, an der Breuer und Freud ihr Hysteriekonzept entwickelten, wie auch Anna Katharina Emmerick. Mesmer deutete an, eine Heilung der Jungfer Paradies läge weder in ihrem Interesse noch in dem der Familie. Sie hätte als Geheilte ihre Berühmtheit als blinde Musikerin verloren, und vielleicht auch die Unterstützung der Kaiserin (vgl. auch sekundären Krankheitsgewinn in Kap. Hysterie). Nach dem Eklat verließ Mesmer 1777 Wien und kam 1778 in Paris an.
In Paris herrschte eine grundsätzlich andere Atmosphäre. Es existierte eine allgemeine Tendenz zur Massenhysterie, die Bevölkerung fiel von einer Modelaune in die andere. Mesmers Ruhm war ihm vorausgeeilt, er ließ sich in einem Palais am Place Vendôme nieder und empfing dort Patienten aus den höchsten Gesellschaftsschichten, die er gegen hohe Honorare magnetisierte. Der Andrang war derart stark, daß Mesmer kollektive Behandlungen entwickelte. Zunehmend verzichtete er auf Magneten völlig und wirkte nur durch das Bacquet und seine Persönlichkeit.
Mesmers Heilverfahren erschien noch immer als extravagant, obwohl er immer mehr Erfolge hatte und unglaubliche Honorare forden konnte. Noch immer stand er im Ruf der Scharlatanerie. Sein Heilverfahren war undurchschaubar und spektakulär, das rätselhafte Bacquet verlockte geradezu Scharlatane wie Cagliostro am Boom des Mesmerismus teilzuhaben. 1782 versuchte Mesmer aus dem zwar angefeindeten, nichtsdestotrotz prosperierenden Projekt auszusteigen. Die Gründung einer Gesellschaft, die sich mit Anteilen in das Geheimnis des animalischen Magnetismus und dessen monopolistische Anwendung einkaufte, wurde ein Erfolg. Unter den Subskribenten fanden sich die glänzendsten Namen des Hofes, des Adels und der Stadt: Montesquieu, Lafayette, und der Amtmann des Malteserordens, des Barres, der den Mgnetismus bei den Ordensrittern auf der Insel Malta einführte. Die Gesellschaft "Société de l' Harmonie" - eine Mischung aus Geschäftsunternehmung, privater Schule und Freimaurerloge - gedieh alsbald und eröffnete Zweigstellen in allen französischen Groß- und Kleinstädten. Die Gesellschaft brachte Mesmer ein großes Vermögen ein, darüber hinaus verbreitete sie Mesmers ehemaliges Geheimwissen in ganz Frankreich. Der tierische Magnetismus wurde in Frankreich zu einer festen Institution.
Im März 1784 berief der König wegen des Aufsehens um Mesmer eine Untersuchungskommission ein, die aus Mitgliedern der Academie des Sciences und der Academie de Médicine bestand, sowie eine zweite Kommission, die sich aus Mitgliedern der Société Royale zusammensetzte. Zu diesen Kommissionen gehörten die hervorragensten Wissenschaftler ihrer Zeit: der Astronom Bailly, der Chemiker Lavoisier, der Arzt Guillotin und der amerikanische Gesandte Benjamin Franklin. Die Kommissionen kamen zu dem Schluß, das sich kein Beweis für die physische Existenz des magnetischen Fluidums feststellen lasse. Therapeutische Wirkungen wurden nicht geleugnet, jedoch auf "Einbildung" zurückgeführt.
Das Staatsministerium beschloß, die Heilkunst mit Hilfe des tierischen Magnetismus zu verbieten, konnte sich wegen verfahrenstechnischer Fehler aber nicht durchsetzen. Trotzdem geriet der Mesmerismus immer mehr in Mißkredit: Spottschriften, Karikaturen usw. erschienen, dazu ähnlich wie früher in Gassner's Fall eine große Anzahl von Kontroversliteratur. Als Mesmer sein Geheimnis lüftete, bekam er zudem noch die Kritik seiner Schüler zu spüren, seine Lehre sei zu vage und unzusammenhängend. Sie machten sich also daran, das Denkgebäude zu systematisieren.
Persönliche Rückschläge gesellten sich der allgemeinen Kritik hinzu. Am Karfreitag des Jahres 1784 war eine junge, blinde Musikerin zum "Concert Spirituel du Carême" geladen worden und trug ihre Kunst in Gegenwart des königlichen Hofes und der Pariser besseren Gesellschaft vor. Diese Musikerin war niemand anderes als Maria Theresia Paradis! Alle Augen richteten sich auf Mesmer, der eine der schlimmsten Demütigungen seines Lebens über sich ergehen lassen mußte. Seine Feinde griffen die alte Geschichte auf und wollten sein Scheitern in diesem Fall noch einmal beweisen. In Lyon, einer Einladung der Société de l' Harmonie folgend, erlitt Mesmer eine Niederlage, als er im Beisein des preußischen Prinzen Heinrich eine Demonstration seines Könnens geben wollte.
Mesmer verließ Frankreich, konnte aber von seinem Vermögen ein hochherrschaftliches Leben weiterführen. Er reiste noch einige Zeit durch Mitteleuropa, ließ sich schließlich in Süddeutschland am Bodensee nieder. Die letzten zwanzig Jahre lebte er in Vergessenheit, bis sich die Romantiker, namentlich Wolfart, wieder für ihn zu interessieren begannen.
Mesmers System war theoretisch am Wissen seiner Zeit orientiert; in der therapeutischen Praxis war es allerdings kaum vom Schamanismus primitiver Völker zu unterscheiden. Seine Lehre erhielt jedoch den Keim mehrerer Grundannahmen der heutigen Psychiatrie. Ein Magnetiseur ist das therapeutische Agens seiner Heilungen, seine Kraft liegt in ihm selbst. Um eine Heilung zu ermöglichen, muß er zuerst einen Rapport herstellen, d. h. eine Art "Einstimmung" mit seinen Patienten. Heilung geschieht durch Krisen. Krisen sind Manifestationen latenter Krankheiten; der Magnetiseur ruft sie künstlich hervor, um sie steuern zu können. Es ist besser, mehrere immer schwächer werdende Krisen hervorzurufen, als nur eine Krise. Bei der Kollektivbehandlung soll der Magnetiseur die Reaktionen der Patienten untereinander unter Kontrolle behalten.
Mesmer faßte seine Schüler zu einer "Gesellschaft" zusammen, in der Ärzte und Laien - Magnetiseure auf gleichem Fuße standen. Ihre Mitglieder erörterten die Ergebnisse ihrer Arbeit und erhielten die Einheit der Bewegung aufrecht.
Puységur
Mesmers Nachfolger und kongenialer Schöpfer der zweiten Phase des Mesmerismus wurde sein Schüler, Amand - Marie - Jaques de Chastenet, Marquis de Puységur. Der Mesmerismus war in Frankreich von der philantropischen Neigung des Adels getragen, der, obwohl er sich an seine Privilegien klammerte, selbstlosen Dienst an der Öffentlichkeit leistete. Der älteste der drei Brüder Puységur experimentierte, nachdem er der neuen Lehre zunächst skeptisch gegenübergestanden hatte, mit der mesmerschen Heilmethode. Er nahm auf seinem Gut Einzel- und Kollektivbehandlungen vor. Bald war er so bekannt, daß er Kollektivbehandlungen unter freiem Himmel abhielt:
Inmitten des Dorfplatzes stand eine schöne alte Ulme, an deren Fuß eine Quelle ihr klares Wasser hervorsprudelte. Sie war von Steinbänken umgeben, auf denen sich die Bauern niederließen; in die Hauptäste des Baumes und um den Stamm herum hängte man Seile; die Patienten wickelten die Seilenden um den kranken Körperteil herum. Die Prozedur begann damit, daß die Patienten eine Kette bildeten, indem sie einander bei den Daumen hielten, und sie fühlten in stärkerem oder geringerem Maß, wie das Fluidum sie durchströmte. Nach einer Weile befahl der Meister, die Kette solle aufgelöst werden und die Patienten sollten sich die Hände reiben. Dann wählte er einige von ihnen aus und versetzte sie durch Berührung mit einem eisernen Stab in eine "vollkommene Krise". Diese Personen, nun Ärzte genannt, diagnostizierten Krankheiten und verordneten Behandlungen. Um sie wieder zu "entzaubern" (d. H., um sie aus dem magnetischen Schlaf zu wecken), befahl ihnen Puységur, den Baum zu küssen, worauf sie erwachten; sie erinnerten sich an nichts von dem, was geschehen war. Diese Behandlung wurde im Beisein neugieriger und begeisterter Zuschauer ausgeführt. Es wurde berichtet, im Verlauf von wenig mehr als einem Monat seien in Buzancy von 300 Patienten 62 von verschiedenen Leiden geheilt worden.
Puységur hatte mit seiner Methode zwei Manifestationen entdeckt. Erstens die "vollkommene Krise" selbst. Hierbei handelt es sich um einen scheinbaren Wachzustand mit einer sympathetischen Beziehung zum Magnetiseur, dessen Befehle die betreffende Person ausführte. Nach dem Erwachen konnten die Vorgänge nicht mehr erinnert werden. Die Ähnlichkeit des magnetischen Schlafes mit natürlichem Somnambulismus wurde bald erkannt, daher auch die Bezeichnung "künstlicher Somnambulismus", erst über fünfzig Jahre später wurde für dieses Phänomen der Begriff "Hypnose" gefunden. Die zweite Entdeckung war die der "Luzidität" einiger Patienten, d. h. ihre Fähigkeit, Krankheiten zu diagnostizieren, ihren Verlauf vorauszusagen und Behandlungen sowohl für sich, als auch für andere vorzuschreiben.
Puységur erkannte, daß Mesmers Lehre von dem physikalischen Fluidum nichtig war, und er begriff, daß das wirklich Wirksame bei der Heilung der Wille des Magnetiseurs war.
Zusammen mit Mesmers orthodoxer Methode kamen die verschiedenen Elemente zusammen: der Rapport (Einstimmung der Patienten), die magnetische Behandlung (magische Handlung), die somnambulen Zustände und die Luzidität (Hellsichtigkeit). Durch den magnetischen Schlaf (Somnambulismus oder Clairvoyance) erlangte der Arzt Zugang zum Unbewußten des Patienten. Der Arzt konnte unbewußte, in tiefere Schichten verdrängte Gedanken zum Vorschein bringen, dieses Phänomen wird mit Luzidität beschrieben. Bald bemerkte man den posthypnotischen Einfluß der Methode, d. h. dem Patienten konnten Empfindungen oder Anweisungen suggeriert werden, welche nach dem Erwachen noch anhielten. Zwischen Patienten und Arzt war somit eine wechselseitige Wirkung hergestellt.
Der Berliner Arzt Carl Alexander Ferdinand Kluge unterschied in seinem Lehrbuch über den animalischen Magnetismus sechs Stufen des magnetischen Zustandes: 1.) Wachsein mit dem Gefühl erhöhter Wärme, 2.) Halbschlaf 3.) "Innere Dunkelheit", d. h. Schlaf im eigentlichen Sinne und Unempfindlichkeit, 4.) "Innere Klarheit", d. h. Bewußtsein innerhalb des eigenen Körpers, außersinnliche Wahrnehmungen, Sehen durch das Epigastrum usw. 5.) "Selbstbeschauung", die Person ist in der Lage, das Innere ihres eigenen Körpers mit großer Genauigkeit wahrzunehmen, ebenso das Körperinnere von Menschen, mit denen sie in Rapport gebracht wird, 6.) "Allgemeine Klarheit": die Schleier von Zeit und Raum werden beiseite geschoben und der Magnetisierte nimmt Dinge wahr, die in der Vergangenheit, in der Zukunft oder in der Ferne verborgen sind.
Verbreitung des Mesmerismus
Puységurs Entdeckung verbreitete sich umgehend in ganz Frankreich, spaltete aber die Mesmeristen in "Fluidisten" und "Animisten", wobei letztere die Rolle der Psyche betonten, die ersten am magnetischen Fluidum festhielten. Es wurden neue Schulen eingerichtet; im Jahre 1789 zählte die "Société Harmonique des Amis Réunis" in Straßburg allein 200 Mitglieder, darunter die Elite der Elsässischen Aristokratie, die sich verpflichtete, ihre Behandlungen kostenlos durchzuführen. 1789 wurde die Entwicklung des Mesmerismus durch die Revolution abrupt unterbrochen. Seine Anhänger, d. h. vor allem der Adel, wurden in alle Richtungen vertrieben; dieser und jener endete auf dem Schafott, die mesmerisierten Malteserritter wurden von Napoleon kurzerhand aufgelöst. Der Mesmerismus konnte sich in Frankreich zunächst nicht weiterentwickeln. 1805 trat Puységur wieder an das Licht der Öffentlichkeit, die magnetische Bewegung nahm einen neuen Aufschwung. Nach dem Sturz Napoleons war Puységur der Patriarch des Mesmerismus. Allerdings hatten sich eine Reihe neuer Magnetiseure etabliert: der Abbé Faria, J. P. F. Deleuze, Alexandre Bertrand und andere. In der neuen Technik standen der Rapport und der magnetische Schlaf im Vordergrund. Der Mesmerismus breitete sich schnell in Deutschland aus. 1786 führte Markgraf Karl Friedrich von Baden die Methode in seinen Ländern ein, 1787 gründete Professor Böckmann, ein Physiker aus Karlsruhe, das Archiv für Magnetismus und Somnambulismus. Im übrigen befanden sich zahlreiche prominente deutsche Bildungsreisende in Paris, denen die öffentliche Furore um den Magnetismus sicher nicht entgangen ist. Die Ausbreitung nach Preußen war begünstigt durch die französische Besetzung, die Hochphase hier liegt um und nach 1812.
Magnetische Experimente mit Anna Katharina Emmerick
Mit der Beschreibung Kluges der magnetischen Wirkung und der Romantischen Auffassung des Mesmerismus läßt sich leicht der Faden zu Brentanos Versuchen mit Anna Katharina Emmerick spinnen. Brentanos Experimente mit der Kranken waren nichts weiter als die religiös gefärbten Anwendungen des mesmeristischen Verfahrens. A. K. Emmerick kann dann als besonders luzide Somnambule gelten, die ihre "Begabung" in den Dienst des sich erneuernden Katholizismus stellte. Die katholische Erneuerungsbewegung neigte in ihrer Verquickung mit romantischen Positionen ohnehin zur metaphysischen Überhöhung von Naturphänomenen. Die Clairvoyancen der Emmerick ließen sich sehr gut als heiligenmäßige Varianten des magnetischen Schlafes deuten. Dasselbe konnte Brentano für das Hellsehen annehmen, als eine religiös - magnetische Luzidität. Wenn Brentano die Kranke Reliquien erspüren ließ, ging er von einer Kraft aus, die ähnlich dem Magnetismus den geheiligten Gegenständen innewohnen müsse. Diese Kraft sei von der sensiblen Kranken zu erspüren. So sollte die Emmerick Weihwasser, Kreuze, Hostien und Reliqien, Priesterhände sowie -finger erkennen, als ein Höhepunkt galt das Erkennen von Priestersegen.
Das andere, was ich in den ekstatischen Zuständen so merkwürdig finde, war ihr starker Rapport zu allem worauf eine kirchliche Weihe ruhte. Die Wirkung des Weihwassers habe ich schon erwähnt, aber noch stärker zogen sie Reliquien der Märtyrer und der Heiligen an, sobald sie in ihre Atmosphäre kamen. Eine echte Reliquie erkannte sie sogleich, ergriff sie mit Hast und drückte sie an ihre Brust. Sie gab auch richtig die Namen der Märtyrer an, wovon die Reliquie war und sah im Geiste ihre Hinrichtung. - Täuschungen waren hier nicht möglich. Hier statt vieler nur eine Probe:
Ein berühmter Geistlicher in Münster schickte ein versiegeltes Paketchen mit dem Auftrage, es zu der Kranken zu legen, wenn sie im ekstatischen Zustande sei. Das geschah, sie fühlte alsbald den magischen Zug, griff richtig das Paket und nannte die Namen zweier Heiligen, deren Reliquien, nach der authentischen Urkunde, die besagter Priester darüber besaß, das Paket wirklich enthielt.
Wesener stellte selbst magnetische Experimente mit A. K. Emmerick an, die das aber wohl durchschaute:
Donnerstag, den 27. April Abend(s) fand sich eine Ekstase ein. (....) Ich entfernte die Bettdecke von der Brust und sprach einige Worte ganz dicht auf der Herzgrube - keine Veränderung. Ich sprach jetzt auf die Spitzen der Zehen - keine Veränderung. Ich wollte nun auf die Fingerspitzen sprechen, konnte die krampfhafte Zusammenziehung aber nicht überwinden. Ich setzte jetzt meine vier Fingerspitzen der rechten Hand auf die Herzgrube und sprach auf die zusammengelegten Fingerspitzen der linken Hand - keine Veränderung. Ich schrie ihr stark ins Ohr - keine Veränderung. Jetzt mußte Herr Limberg alle beschriebenen Versuche wiederholen, aber auch diese blieben ohne Wirkung. Hierauf setzte sich Herr Limberg vor ihr aufs Bett und redete sie so an: Hallo! Gehorsam! wo sind sie? Kaum war das Wort Gehorsam ausgesprochen, als sie unter einem tiefen Seufzer heftig aufschrak und erwachte. Herr Limberg fragte sie, was ihr widerfahren. Sie sagte, es habe sie jemand gerufen.
Wesener war wohl kein gutes Medium und dem Unterbewußtsein der Emmerick müssen diese unbeholfenen Versuche wohl zu schäbig vorgekommen sein, sie reagierte nur auf religiöse Suggestionen.
Die Extasen ebenso wie die Ohnmachten konnten auch ohne weiteres als magnetische Krisen gedeutet werden, nur eben mit religiösem Anstrich. Die Schilderung von Begebenheiten des historischen Jesus weist ebenfalls in diese Richtung. Brentano sah in der kranken Nonne ein religiös - magnetisches Medium, verwunderlich nur, daß er sich selbst nicht als ein solches betrachtete. Letztlich stellte er sich aber in die Tradition Gassners, in dem er die Suggestion wieder zurück in den katholischen Zusammenhang der Besessenheit - in diesem Fall eine positive, göttliche - stellte. Die frühromantische Naturphilosophie hatte hiermit wenig zu tun, sie war christlich - pantheistisch orientiert, allerdings kann man kaum annehmen, daß sich ausgerechnet Brentano mit der verwickelten Naturphilosophie Schellings befaßt haben sollte. Schelling selbst entwickelte sich in seinen späten Phasen zu einem guten Katholiken, sein Spätwerk tendierte hin zum Sündegedanken und wurde mehr und mehr moralisch und okkult.
Magnetische Experimente waren der Kranken beileibe keine Neuigkeit. Wesener weist A. K. Emmerick sogar in den Magnetismus ein. Schon vor Christian Brentanos Anwesenheit in Dülmen sind die der Kranken Nahestehenden sich der Nähe von magnetischen Erscheinungen und dem Krankheitsbild einig:
Freitag, den 14. April (...) Nun erzählte mir Herr Limberg, mit dem ich oft über den tierischen Magnetismus und die Ähnlichkeit seiner Äüßerungen mit den Erscheinungen an unserer Kranken mich unterhalten, daß er an einem Abende, wo ich nicht zugegen war, mit der Kranken, als sie eben in einem ekstatischen (kataleptischen) Zustande war, verschiedene magnetische Versuche gemacht habe, die aber ganz ohne Reaktionen geblieben seien. Ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit die Versuche selbst zu machen.
Hümpfner weist in der Fußnote dazu an, daß Wesener die Erscheinungen an A. K. Emmerick nie mit denen des Magnetismus zu identifizieren gewagt habe. Er spräche von "Clairvoyancen ganz anderer Art", nachzulesen in Weseners Aufsatz in Hufelands Journal LVII (1823, "Auch ein Wort über Magnetismus"). Hätte einer der Beteiligten es gewagt, die Zustände der Kranken ganz profan als Hysterie oder magnetische Zustände auszusprechen, wäre das wohl dem Effekt von des "Kaisers neuen Kleidern" gleichgekommen; der stand nackt als gewöhnlicher Sterblicher vor seinen Untertanen, und nur ein kleines Kind wagte die profane Wahrheit auszusprechen. Im Fall Emmerick wollte aber niemand sehen, die nackte Wahrheit paßte nicht ins Konzept. Keiner wagte die Inszenierung des Stückes in Frage zu stellen.
Romantische Medizin. Reil und Ringseis
Die deutschen Romantiker griffen die Ideen Mesmers und seiner Schüler bereitwillig auf, paßte doch Fluidum, Somnambulismus und Luzidität prächtig in das Konzept der romantischen Naturphilosophie. Der Kosmos ist nach dieser Auffassung ein lebendiger Organismus, von einer Seele durchdrungen, die das Ganze und die Teile zusammenhält. Das Magnetische Fluidum wäre danach eine solche Kraft: hätte es sich nachweisen lassen, wäre die Romantische Annahme bestätigt worden. Der Somnambulismus wäre ein Mittelding zwischen Schlaf und Wachen, er beherbergt sowohl das niedere Tierische - den Instinkt - als auch das Höhere, das bewußt Menschliche. Im somnambulen Schlaf ist der Mensch im Zustand einer einheitlichen Existenz, indem er beide Seiten erleben kann. Die sympathetische Verbindung mit dem Magnetiseur wäre die momentane Herstellung einer vereinten Seele, eines einheitlichen Individuums, vergleichbar der Verbindung zwischen Fötus und Mutter. Die Luzidität, das was Mesmer als sechsten Sinn bezeichnete, werde den Menschen befähigen, mit der Weltseele in Verbindung zu treten.
Der Mesmerismus war jedoch nur ein Konzept der Romantischen Medizin. Im Grunde waren die Romantischen medizinischen Theorien jeweils an ihre Schöpfer gebunden. Man muß feststellen, daß die Medizin einen ganz herausgehobenen Stellenwert innerhalb der Romantik einnahm. Unglaublich viele ihrer Protagonisten hatten eine medizinisch - akademische Ausbildung (G. H. Schubert, Schelling, Cl. Brentanos Bruder Christian u. v. a, nachzulesen bei Leibbrand, Huch usw.). Doch die Wissenschaft war im Fluß, die politischen Veränderungen hatten die Spielräume dazu geschaffen. Gemeinsam ist den Romantischen Ärzten die Hervorhebung des Individuellen und die Betonung der Rolle der Triebkräfte in der Leib - Seele Beziehung. Im Bereich der Psychologie sind Gotthilf Heinrich von Schubert (1780 - 1860) und Carl Gustav Carus (1789 - 1769) als Wegbereiter eines dynamischen Verständnisses der Leib - Seele Problematik zu erwähnen. Schuberts Auffassungen ähneln denen Freuds, was den Dualismus Ich und Umwelt betrifft, zum anderen die Bedeutung des Traums sowie dessen Symbolik. Carus kann ruhigen Gewissens als frühmoderner Arzt und Psychologe betrachtet werden; er definierte die Psychologie als die Wissenschaft von der Entwicklung der Seele vom Unterbewußten zum Bewußten. Das Bewußtsein wächst nach der Geburt allmählich, aber es bleibt unter dem Einfluß des Unbewußten, und das Individuum kehrt im Schlaf periodisch ins Unbewußte zurück.
Unter den Medizinern gibt es eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, die erwähnt und deren Theorien dargestellt werden müßten. Für das Thema Emmerick sind die Ärzte Johann Christian Reil (1759 - 1813) als Lehrer Weseners sowie die katholischen Ärzte, die der Erneuerungsbewegung nahestanden - A. C. A. Eschenmayer (1768 - 1838), Windischmann und Ringseis - wichtig. Johann Christian Heinroth (1773 - 1843) muß als Psychosomatiker genannt werden. Justinus Kerner (1786 - 1862) spielte als früher Psychiater und "Seelenführer" verschiedener Somnambuler im Umfeld der Romantischen Ärzte eine besondere Rolle. Kerner ging den Weg von der naturwissenschaftlichen Empirie über den Mesmerismus hin zum Geisterglauben. Schließlich neigte er völlig unter dem Einfluß von Eschenmayer dem Katholizismus zu. Hier sollen nur zwei Ärzte kurz beschrieben werden, weil an ihnen das Spektrum ihrer Zeit, zumindest was die Psychiatrie angeht, zu erkennen ist und die der Emmerick nahestehendsten Personen, Wesener und Brentano, mit ihnen Umgang hatten.
Reil spielte bei der Gründung der Berliner Universität eine wichtige Rolle, er wurde dorthin berufen. 1813 übernahm er die oberste Leitung sämtlicher preußischer Lazarette. Reil beschäftigte sich eingehend mit Gehirn - Anatomie und war einer der hervorragenden Kliniker seiner Zeit. Er selbst bezeichnete sich als ersten Psychiater der Medizingeschichte, der Begriff "Psychiatrie" wird auf ihn zurückgeführt. Er lehrte in Halle, wo auch Wesener 1801 / 1802 eingeschrieben war. Reil veröffentlichte 1803 seine "Rapsodien über die Anwendung der psychischen Cur - Methoden auf Geisteszerrüttung". Darin entwarf Reil ein ganzes Programm für die Behandlung von Geisteskrankheiten. Die Behandlung müsse ganz den Bedürfnissen jedes Patienten angepaßt werden, schrieb Reil. Er entwickelte ein Programm der Therapie, das auf Reizung aller Sinne und des Körpers abzielte. Er berücksichtigte darin nicht nur die psychischen Ursachen der Erkrankung, sondern ebenso die somatoformen Wechselbeziehungen. Sein Verdienst war die Forderung nach Humanisierung der Irrenanstalten, eine Reform, die in Frankreich unter Pinel und Esquirol schon vollzogen war. "...Erstens muß der Name der Anstalten geändert werden: das berüchtigte Wort 'Tollhaus' muß ersetzt werden durch 'Krankenhaus für psychische Cur - Methoden' oder dergleichen. Die Anstalten müssen unter die dreifache Leitung eines Verwalters, eines Arztes und eines Psychologen gestellt werden. Die Heilanstalt muß in einer angenehmen Landschaft liegen, in Pavillons unterteilt sein und sollte auf ihrem Gelände einen Gutsbetrieb haben. Man muß sie sich in zwei Abteilungen vorstellen, die sich in ihrem Aufbau und ihren Zielen von Grund auf unterscheiden. Die eine Abteilung, nur jenen Patienten vorbehalten, die offensichtlich unheilbar sind, sollte nicht nur den Schutz der Gesellschaft anstreben, sondern sich bemühen, den Patienten das Leben so angenehm wie möglich zu machen und sollte für ihre Beschäftigung sorgen. Die andere mit einem ganz anderen Charakter, sollte der Heilung von Geisteskrankheiten und Neurosen gewidmet sein". Hier lassen sich ganz neue Töne im Gesundheitswesen hören. Umgesetzt hat diese Maximen übrigens erst der bekannte Kinderbuchautor (Struwelpeter) und psychiatrische Pionier Heinrich Hofmann in Frankfurt in den 1850er Jahren. Aber welch Unterschied in der Auffassung zu den tatsächlichen Zuständen in Deutschland. Das Tollhaus war zu dieser Zeit eine Zwangsinstitution, in der Verbrecher und psychisch Kranke gemeinsam untergebracht waren. Das Ansehen eines solchen Tollhauses war denkbar gering. Im Kloster Agnetenberg befand sich ein solches Tollhaus, es wurde aber nach der Übernahme in den Herrschaftsbereich der Herzöge von Arenberg umgehend abgeschafft, um einer Schulerweiterung zu weichen. Was mit den Patienten geschah ist ungewiß, vermutlich wurden sie hinausgeworfen und sich selbst überlassen.
Anna Katharina Emmerick hätte mit den Maßgaben Reils möglicherweise geholfen werden können. Eine Gleichstellung mit gewöhnlichen Irren kam aber den beteiligten Ärzten und Geistlichen nicht in den Sinn. Das hätte die Kranke zu stark abgewertet, auch wäre der Beweis göttlichen Protestes gegen die staatlichen Maßnamen ins Lächerliche gezogen worden. Weseners Heilungsbemühungen beschränkten sich auf eine homöopathieähnliche Behandlungsweise. Er verabreichte Opiumtinktur und Pflanzenextrakte, die er aber häufig äußerlich anwandte.
Johann Nepomuk Ringseis (1785- 1880) gehörte zu den bayerischen Ärzten, die der katholischen Erneuerungsbewegung nicht nur nahestanden, sondern ein Teil derer waren. Ringseis studierte ab 1805 Medizin in Landshut und war dort Assistent bei Röschlaub. Er machte die Bekanntschaft von Stolberg und Baader. Mit Sailer war er eng befreundet und als Brentano seinen Freund und Schwager Savigny in Landshut besuchte (Savigny hatte dort eine Professur, bevor er nach Berlin berufen wurde), machte er auch mit diesen Bekanntschaft. Brentano wird sich später noch auf diese Bekanntschaft berufen, als er in seiner tiefsten Krise um 1817 mit ihm eine Korrespondenz begann. Die Briefe von Ringseis, der darin die Erweckungsbewegung im Allgäu beschreibt, begeistern Brentano und haben wohl wesentlich zu dessen Konversion beigetragen. Als praktizierender Arzt behandelte er Baader, Jakobi, Schelling, Jean Paul (Richter) und Anselm Feuerbach (Professor für Kriminalmedizin, Atheist und Vormund Kaspar Hausers, s. u. "Parallelfälle").
Ringseis macht innerhalb der katholischen Romantik in Bayern und unter Protektion Ludwig I. (Hohenschwangau, Walhalla!) eine beispiellose Karriere. Er wird Professor in München und begleitet den Kronprinzen auf seiner Italienreise. Ihm wird die Reformierung des Bayerischen Gesundheitswesens übertragen, und als 1826 die Landshuter Universität nach München verlegt wird, ist er als Ordinarius für die Berufung Baaders, Schellings, Görres, Okens und Döllingers mitverantwortlich (hätte nur noch Brentano gefehlt). Später wird er Universitätsrektor, 1834 geadelt, 1837 Abgeordneter der bayerischen Ständekammer, 1848 - 52 Mitbegründer des Vereins für Monarchie und religiöse Freiheit. Als Abgeordneter der Universität nimmt er an dem Jenaer Professorenkongreß teil. Mit der Abdankung Ludwig I. verlor Ringseis seine öffentlichen Ämter, konnte sich 1855 - 56 aber erneut als Rektor der Universität durchsetzen. Soweit die politische und wissenschaftliche Karriere eines Künders des Irrationalismus und die Verwobenheit der katholischen Romantik mit der bayerischen Monarchie. Was hatte Ringseis nun als medizinisches Konzept zu bieten? Man ahnt es - die Erbsünde! Als Verkünder der medizinischen Sündenidee hatte er 1813 eine Arbeit geschrieben, zu der Röschlaub das Vorwort verfaßt hatte. In dieser Arbeit verknüpfte er Hippokrates mit den Lehren Browns (Brown hatte, seinem Lehrer Cullen folgend, die Erregbarkeitstheorien seiner Zeit zusammengefaßt und eine Erregbarkeitsskala mit positiven und negativen Bereichen erstellt. Danach waren Krankheitsursachen zuviel oder zuwenig Nervenspannung (Sthenie und Asthenie). Ringseis griff die Ideen Schellings auf, nach der die Welt vom Absoluten abgefallen sei, er die Sünde Adams heraufbeschwor und in der Erlösung die letzte Möglichkeit der Rückkehr zu Gott sah. Schelling beeinflußte mit seiner Sündentheorie die katholisch - Romantischen Ärzte Eschenmeyer, Windischmann und Ringseis. Ringseis ging so weit, daß er sogar Mikroskop und Sektion ablehnte.
Ringseis trennte gewaltsam die Physiologie von der Pathologie: die Naturanbeter mißhandelten die Natur wie eine feile Metze in frechen Experimenten mit dem Menschenleben. Er hält die Gesundheit für einen Zustand, in dem die Lebenskraft herrsche, in der Krankheit werde dieses Lebensprinzip durch etwas Fremdes verdunkelt. Seine Meinung beruhte im wesentlichen darauf, daß er meinte, Krankheiten selbst könnten wiederum erkranken; der Facharzt für Krankheitswesen müsse her! Die Krankheiten mit ihren eigenen Seelen, mit dem ihnen eigenen individuellen Leben, seien tatsächlich kleine Kobolde, kleine Hilfsdämonen des großen Teufels, ohne dessen Mitarbeit der Sündenfall im Paradies nicht hätte statthaben können. Organismus und Scheinorganismus prügelten sich sozusagen im Zweikampf herum; der Arzt müsse daher bei dem Kranken zunächst mit einer heilsamen Entsündigung beginnen. Kampf sei gesetzwidrig, teuflisch; daher seien auch Revolutionen Krankheiten des politischen Lebens. Zu diesen Gedanken gesellte sich rein Magisches und eine Art nationaler Mythos vom Blut.
Anna Katharina Emmerick hätten solche Krankheitskonzepte kaum geholfen. Wir wissen, daß im Oktober 1818 Sailer, der enge Freund von Ringseis, die Kranke besuchte; daß Brentano mit Sailer zusammentraf und Brentano eine rege Korrespondenz mit dem Landshuter Kreis pflegte. Ernsthafte Heilungsbemühungen aus diesem Kreis waren kaum zu erwarten; eher ein Herumexperimentieren mit der Kranken, ähnlich wie Eschenmeyer gemeinsam mit Kerner dies mit der Somnambulen Friederike Hauffe betrieb.
Welch ein Irrsinn der Menschheit zu glauben, sie sei das höchste auf Erden!
Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin!!! =)