1835: Das königlich-bayerische Medizinalkollegium vs. Eisenbahn - Hoax?

Ich hab vorhin zum Themenkomplex Technik-/Fortschrittsfeindlichkeit, Bambi-Fehler, Naturalistischer Fehlschluss u.ä. rumgesucht und bin da auf was (wie ich finde) Lustiges gestoßen.
Problem: Ich weiß nicht ob das ein Hoax ist.

Es geht darum, dass es in der ersten Hälfte des 19. Jhr. Menschen gab, die Bedenken bzgl. der gesundheitlichen Verträglichkeit von Eisenbahnfahrten hatten. Tenor: Derart gewaltige Geschwindigkeiten (so um die 45 km/h in der Spitze) seien ein gesundheitliches Risiko, weil das ja viel schneller ist als unser natürliches Tempo.

Nun der Hoax oder auch Nichthoax.

Wolfgang Schivelbusch erwähnt in seinem schönen Buch zur Entstehungsgeschichte
der Eisenbahn einen frühen Fall von Technologiebewertung: das Gutachten
eines "Königlich Bayrischen Medizinalkollegiums" über die Gesundheitsrisiken
dieses Transportsystems.
[...]
Die zentrale Aussage des um das Jahr 1835 erstellten Gutachtens bestand darin,
Reisen mit der Eisenbahn sei gesundheitsschädlich und sollte verboten werden.

"Ortsveränderungen mittels irgend einer Art von Dampfmaschine
sollten im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die
raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passagieren die
geistige Unruhe, 'delirium furiosum' genannt, hervorzurufen. Selbst
zugegeben, daß Reisende sich freiwillig der Gefahr aussetzen, muß
der Staat wenigstens die Zuschauer beschützen, denn der Anblick einer
Lokomotive, die in voller Schnelligkeit dahinrast, genügt, um diese
schreckliche Krankheit zu erzeugen. Es ist daher unumgänglich nötig,
daß eine Schranke, wenigstens sechs Fuß hoch, auf beiden Seiten
der Bahn errichtet werde."

Problem:

Zitiert ist hier nach Sieferles "Fortschrittsfeinde"302 Sieferle zitiert nach
Pöls303, Pöls zitiert nach Schulze304, Schulze gibt keine Quelle.

http://www2000.wzb.eu/alt/met/pdf/verlorene_expertise.pdf

Bei der FAZ z.B.hält man es für einen Hoax:

http://www.faz.net/frankfurter-allgemeine-zeitung/technik-und-motor/175-jahre-eisenbahn-in-deutschland-1-geschwindigkeit-als-die-landschaft-streifen-zog-11037361.html

Weiß da jemand mehr? Ich find das Gutachten ziemlich lustig und fänd schade wenns wirklich fake ist.

@-hyde-

Man hatte auch damals bedenken das man beim Faharrad fahren durch den Fahrtwind defomierungen im Gesicht bekommen konnte

@RobbyRobbe
Gibts dazu auch ne lustige höchstamtliche Warnung? ;)

@-hyde-

Weiß nicht :| suche ich mal

@RobbyRobbe
Hoffe du wirst fündig. ;)

@Mods
Ich seh gerade ich hab mir nen Fehler in den Threadtitel gecopypasted (Medizinalkollegiums).
Kann das pls wer reparieren?

@Mod
Danke!

Das Gutachten scheint echt zu sein, denn auch in Großbritannien und Paris wurden laut dieses Artikels

(http://diepresse.com/home/science/falsifiziert/543154/Fehleinschaetzungen-der-Menschheit)

solche Gutachten eingeholt, die zu dem gleichen Ergebnis kamen.
Und es wäre ja auch nicht die erste Fehleinschätzung in der Geschichte der Wissenschaft.

@steve555
Schöner Artikel danke.
Allerdings steht auch dort, bezogen auf das Gutachten nach dem ich frage:

Dieses Gutachten wird in vielen Arbeiten und Büchern zitiert – allerdings wurde es in keinem Archiv gefunden. Damit steht die Überlieferung auf schwachen Beinen.

@-hyde-

In meinen Erdkunde-Buch der 5/6 Klasse, wurde der von dir zitierte Text bzw. die "Problematik der schnellen Fortbewegung per Eisenbahn" auch erwähnt.
Halte es daher einfach mal für echt.

@Torge94
Weißt du zufällig noch wie das Schulbuch / der Verlag hieß?
Um das für echt zu halten reicht es leider nicht aus in einem Schulbuch erwähnt zu werden, man weiß ja nicht ob/wie die Verantwortlichen ihre Quellen gegegecheckt haben. Aber vielleicht gibts im Schulbuch ja ne Quellenangabe.

Ja ich kenne diese schöne Anekdote auch schon aus Schulzeiten - was sie aber auch nicht richtiger macht.
So wirklich widerlegt wird es in dem Beitrag der FAZ aber nun auch nicht. Für den fall das es dieses Gutachten nicht mehr gibt ... Wie viele Ärztliche Gutachten von 1850 und früher gibt's denn noch erhalten?
Kann sein das es nur eine gute Geschichte ist, überzeugt bin ich aber nicht.

@Belafonte

Für möglich halte ich das auch. ich find die Story sogar so gut, dass ich sie weiterverwenden würde. Allerdings nur wenn sie einigermaßen überprüfbar ist.

Belafonte schrieb:So wirklich widerlegt wird es in dem Beitrag der FAZ aber nun auch nicht.

Die Sache ist nicht 100%ig widerlegbar da Nichtexistenz (hier: des Gutachtens) nicht bewiesen werden kann.

@-hyde-
Den Namen weiß ich nicht mehr, wird aber sowas belangloses gewesen sein wie "Geographie 5/6, Ausgabe Niedersachsen", Verlag war "Klett", bin mir aber nicht 100% sicher.

In einer Eisenbahn-Romantik-Folge zur Eröffnung der Semmering-Strecke im Jahre 1854 wird auch berichtet, dass im Vorfeld des Baus dieser Strecke entsprechende Behauptungen aufgestellt wurden. Solche technikfeindliche Argumente wird es immer geben, sei es zur Eisenbahn oder zu Hochspannungsleitungen und Mobilfunkantennen. Was an den Behauptungen so dran ist, werden immer erst nachfolgende Generationen wissen.

Aber immerhin... ca. 160 Jahre später wird dieses Projekt in Form von Lärmschutzwänden doch umgesetzt, wer hätte das gedacht? *scnr*

hier das Zitat im Klett Verlag:
https://www2.klett.de/sixcms/media.php/8/422026_seite178_179.pdf

Das Königlich bayerische Ober-Medizinal-Kollegium, das 1835 das Eisenbahn-Gutachten verfasst haben soll, wurde 1825 aus Sparsamkeitsgründen aufgelöst:

https://books.google.de/books?id=SWwYAAAAYAAJ&pg=PA237&lpg=PA237&dq=bayerisches+ober+medizinal+kollegium&source=bl&ots=JR0jm9WgJ9&sig=ACfU3U2_NaCz0B4biX5tgfpoI42htmSZHQ&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwic_4WH38rgAhXMC-wKHeekB7UQ6AEwBnoECAQQAQ#v=onepage&q=bayerisches%20ober%20medizinal%20kollegium&f=false

Ob, bzw. wann es wieder eröffnet wurde, darüber habe ich bei flüchtiger Recherche nichts finden können.

Diese Äußerung des Obermedizinalkollegiums wurde erstmals 1875 von Heinrich von Treitschke, einem preußischen Historiker, zitiert, der sich damit über die da unten im Süden lustig machte. Bereits 1920 gab es Zweifel an der Echtheit dieses Gutachtens, und trotz intensiver Suche in bayrischen Archiven wurde bis heute nichts dergleichen gefunden. Gefunden allerdings wurde etwas ähnliches. 1985 erschien eine Festschrift zur Feier der Bayrischen Bahn, die als Kuriosum die kritische Äußerung eines "Chirurgen oder Baders" erwähnte:

"Er war der Ansicht, daß der Dampf und die Geschwindigkeit der Fahrt Krankheiten hervorrufen werden: selbst Leute, die nicht mitführen, sondern nur den Zug vorbeifahren sähen, könnten vom Schwindel erfaßt werden."

Wie Trimalchio schon schrieb, wurde das Obermedizinalkollegium von Bayern bereits 1825 aufgelöst. Eine Verordnung vom 27. November 1825 sah vor, daß die Geschäfte des ehemaligen Obermedizinalkollegiums auf den dem Ministerium des Innern unterstellten Obermedizinalrat übergehen siollen. Darüber hinaus gab es laut Verordnung vom 14. Juli 1830 und 11. Februar 1833 noch einen dem Staatsministerium des Innern unterstellten Obermedizinalausschuß.

Heinrich von Treitschke war ein bedeutender Historiker seiner Zeit. Freilich ein heute mehr als umstrittener. So löste er 1879 den Berliner Antisemitismusstreit aus. Seine damals veröffentlichete Äußerung "Die Juden sind unser Unglück" wurde später dann zur Parole des "Stürmer". Die Wikipedia weiß über Treitschkes Ansatz als Historiker zu berichten:

Objektivität in der Geschichtsschreibung lehnte er ab und galt in der späteren Wahrnehmung als Inbegriff des politisierenden Historikers [...]. Treitschke stellte seine historische Arbeit in den Dienst politischer Ziele.

Dazu paßt dann auch der von Hermann Baumgarten vorgebrachte Vorwurf der

Vernachlässigung wissenschaftlicher Sorgfalt

Treitschke

legitimiert[e] die Politik Preußens und seine herausragende Stellung. Gleichzeitig versuchte er die eigenstaatliche Existenz der süddeutschen Monarchien, insbesondere Bayerns, zu delegitimieren

All das zusammengenommen, der politische Ansatz, die Instrumentalisierung von Historie zusammen mit wissenschaftlicher Unsauberkeit und schließlich das Fehlen jenes vielziitierten Gutachtens sowie die Nichtexistenz des Kollegiiums 1835 macht es doch sehr wahrscheinlich, daß Treitschke die Befürchtung eines Barbiers zu einem kritischen Gutachten allerhöchster bayrischer Medizinerkreise aufgebauscht hat. Daß das ganze also tatsächlich ein Hoax ist.

Der prominenteste Deutsche, der sich auf dieses "Gutachten" bezog, war übrigens der GröFaZ himself. In "Mein Kampf" schrieb er:

Alle Befürchtungen dieser erlauchten Korporation von damals sind später bekanntlich nicht eingetroffen: die Reisenden in den Zügen des neuen 'Dampfrosses' wurden nicht schwindlig, die Zuschauer nicht krank, und auf die Bretterzäune, um die neue Einrichtung unsichtbar zu machen, hat man verzichtet - nur die Bretterwände vor den Köpfen aller sogenannter 'Sachverständigen' blieben auch der Nachwelt erhalten.

Wikipedia: Heinrich von Treitschke
https://www.wzb.eu/www2000/alt/met/pdf/verlorene_expertise.pdf
"Grundzüge des bayerischen Staatsrechts"