Vomü62 schrieb:Aber warum schwenkten "normale" kap. Staaten um auf die neolib. Schiene? Dafür muß es doch Gründe gegeben haben.
MM. nach deshalb, weil der "normale" Kap. an gewisse systemische Grenzen kam.
Dafür gab es einige Gründe. Manche vorhergesehen, andere nicht.
Neoliberale Reformen haben das Wirtschaftswachstum angekurbelt, zu einer Zeit als der Boom der Nachkriegsjahre zu Enden drohte.
Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkungen ließen Investitionen Ansteigen, wie eine Dopinspritze für die Wirtschaft. Das passierte gerade als der Wettbewerb zwischen Kapitalismus und Kommunismus vor Allem in einem wirtschaftlichen Kräftemessen bestand.
Die Konsequenzen der Dopingspritze waren diffus, weit in der Zukunft und in der Regel hypothetisch - zumindest für meisten Politiker, die die Reformen umsetzten.
Das ist der Punkt an dem ein Verschwörungstheoretiker den Neoliberalen um Friedmann einen bösen Plan vorwerfen würden, aber sie wussten wohl ebenso wenig um den Langzeitfolgen ihrer Idee. Vor Allem haben sie ihre Pläne stets im Kontext westlicher Demokratien geschmiedet, wie sich neoliberale Ideologie mit anderen Systemen arrangieren würde war unmöglich abzusehen.
Die Folgen: Entkoppelung des Wachstums von Reallöhnen und Produktivität. Stark beschleunigte Akkumulation von Vermögen, die politischen Einfluss mit sich brachte. Globale Expansion des Systems und Globalisierung der Ausbeutung von Mensch und Natur. Wachstumsabhängigkeit in einem global vernetzten Finanzsystem. Klimawandel
Der Grund warum sich der Neoliberalismus verbreitet hat ist, weil er sehr gute Resultate brachte.
Der Grund warum er sich gehalten ist, weil sich, bevor die negativen Konsequenzen abzusehen waren, bereits Macht- und Wirtschaftsstrukturen so verschoben hatten, dass sich das System effektiv selbst erhalten konnte.
Vomü62 schrieb:Machtstrukturen beeinflussen seit je her alles in einem Staat, also auch im "normalen" Kap.
So einfach ist das nicht. Macht speißt sich und legitimiert sich aus bestimmten Quellen. Sie kodiert ihr Wirken in irgendeiner Form und dazu braucht sie ein stabiles Organisationssystem in dem sie Wirken kann.
Die 1000 Jahre vor der Aufklärung sahen in Europa in etwa so aus.
Kirchliche Macht speißt und legitimiert sich über Glaubenansätze. Sie organisiert ihre Macht in der Bürokratie der Institution Kirche, die eine bestimmte Position in der Gesellschaft einnimmt.
Im Gegensatz dazu stand die weltliche Macht der Monarchen. Sie akkumulierten und verbten Macht und gingen Symbiosen mit der Kirche ein zur Legitimation ("von Gottes Gnaden").
Das war lange ein stabiles System, bis Aufklärung, Industrialisierung und Ende der Monarchie alles änderten.
Die Macht der Kirche schrumpfte, die der Monarchie fiel weg. Stattdessen stieg die Macht der Wirtschaftsakteure und weltliche Macht organisierte sich neu in Staaten.
Machtstrukturen bildeten sich neu und dieser Prozess ist frisch. Wir wissen wenig über ideale Verteilungen von Macht, aber was wir wissen ist, dass Stabilität stets eine Folge von ausreichender Gewaltenteilung ist.
Mit den neoliberalen Reformen wurde extrem viel Macht vom Staat an den Markt abgegeben. Und dieser Markt funktioniert nach einem dynamischen, profitgetriebenen Wachstumsprinzip. Die Macht speist sich aus dem Vertrauen an dieses Prinzip und das Vertrauen wird durch Wachstum und Fortschritt geschaffen. Das ist ähnlich den einer Religion zugrundeliegenden Glaubenansätzen.
Wir fragen uns heute warum wir nichts gegen den Klimawandel unternehmen können? Es liegt nicht am "sozialen Dilemma", an zu hohen Kosten oder unzureichendem Wissen oder fehlender Technik.
Es liegt daran, dass die von den neoliberalen Reformen hervorgebrachten Machtstrukturen, aktuell kein Interesse an effektiven Klimaschutz haben.
Kurz: Zu viel Macht in unserer Gesellschaft liegt bei Akteuren die individuelle Profitinteressen über Gemeinwohl stellen.
Und die Ursache für diesen Umstand ist der Neoliberalismus, nicht der Kapitalismus.
Vomü62 schrieb:Ich hab nun ein bischen recherchiert und bin zu dem Ergebnis gekommen, das sowohl wirtschaftliche als auch "ideologische" Gründe Hand in Hand gingen. Vielleicht können wir es dabei belassen.
Es ging mir nur darum den Kontrast zwischen dem Nachkriegskapitalismus der 50er, 60er und 70er und dem neoliberalen Finanzkapitalismus ab den 80ern deutlich zu machen.
Natürlich spielten wirtschaftliche Überlegung auch davor eine Rolle, aber das Gewicht das ihnen seit den 80ern zukommt, ist extrem viel höher, als es davor war.
Einst funktionierte der Markt zum Wohle der Gesellschaft.
In den letzten Jahrzehnten wurde aber so getan als seien wirtschaftliche Interessen stets auch gesellschaftliche Interessen. Diese Perspektive stellte sich aber längst als katastrophal falsch heraus.
Der Markt ist, wie so viele menschliche Systeme, durchfressen von Pathologien, die seine Tendenz zum Gleichgewicht und zur Nachhaltigkeit stören.
Die Lösung unserer Probleme liegt in angemessener Kontrolle und Regulation unserer globalen Märkte. Diese Autorität können nur Staaten haben. Diese Souveränität müssen die Staaten sich zurück holen.
Wer das für Sozialismus hält hat gar nichts verstanden.