Mysteriöser Tod des Hackers Tron
08.01.2008 um 17:52Der Berliner Hacker Tron starb im Oktober 1998. Offiziell war es Selbstmord. Doch niemand mag an Suizid glauben, weder die Eltern noch seine Freunde.
Am 22. Oktober fand ein Spaziergänger in der Nähe des U-Bahnhofes Berlin-Britz eine Leiche. Der Informatiker Boris F., 26, hing erhängt an einem Baum im kleinen Park südlich der Post. Der Gürtel um seinen Hals war mit einem Gartendraht verlängert und um einen Ast geknotet worden. Die Füße des Toten berührten den Boden, er hatte Schlüssel, Papiere, viel Geld und sein Handy in der Hosentasche.
Nach über einem Jahr der Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft im Herbst den Fall zu den Akten gelegt. Offizielles Fazit: Selbstmord. Das gerichtsmedizinische Gutachten legt sich eindeutig fest: kein Anzeichen eines gewaltsamen Todes. Der Todeszeitpunkt: nur einen Tag vor dem Auffinden der Leiche. Boris hatte noch ein Nudelgericht im Magen, offenbar das, was ihm die Mutter am Samstag aufgetischt hatte.
Doch niemand mag an Suizid glauben, weder die Eltern noch seine Freunde. Am wenigsten der Chaos Computer Club. Boris F. nannte sich „Tron" - nach dem gleichnamigen Film - und war hauptberuflich Hacker. Der Held des Kultstreifens gerät unfreiwillig in eine Cyberwelt und muss gegen ein böses „Masterprogramm" kämpfen. Hilfe naht schnell: der gute Held Tron terminiert die finstere Seite der Computermacht.
Der reale Tron galt als lebensfroher, direkter und offener Mensch. Er hatte Angebote für hochdotierte Jobs - und unstrittig dubiose Kontakte zu Geheimdienstlern und mafiösen Hintermännern. Die, die ihn kannten und sein Wissen einschätzen können, halten Boris F. alias Tron neidlos für „genial". Mehrere Hacker-Seiten im Internet sind ihm gewidmet. In der Presseerklärung des CCC zu Trons Tod heisst es, er sei "einer der fähigsten Hacker Europas" gewesen. Einen Suizid könne man sich nicht vorstellen. Angesicht der Umstände seines Verschwindens und Boris F.s aussergewöhnlichen Fähigkeiten gehe man "von einem Verbrechen aus".
Mysteriös war nicht nur das, woran Tron arbeitete: er simulierte Telefonkarten, baute als Diplomarbeit ein abhörsicheres ISDN-Telefon, manipulierte Smart Cards, die man braucht, um verschlüsselte Fernsehprogramme sehen zu können und brachte sein Handy dazu, beim Einschalten auf dem Display "Tron" anzuzeigen. Er galt der derjenige, der als Erster die d-box Leo Kirchs und den Sender Premiere gehackt hat.
Mysteriös war auch sein Verschwinden. Fünf Tage, bevor man seine Leiche fand, an einem Samstag gegen 14 Uhr, verliess er fröhlich das Haus seiner Mutter, mit der zusammen er wohnte. Sein Laptop, von dem er sich sonst nie trennte, war eingeschaltet. Er wolle nur kurz weg, um Geld für den Geburtstag der Oma anzuheben. Am Morgen hatte er noch Geschenkpapier gekauft. Ein Freund, der zufällig vorbeikam, begleitete ihn ein Stück. Der Automat der Bank dokumentiert das letzte Lebenszeichen des Hackers. Danach verschwand Tron. Sein Handy schaltete sich am Sonntag abends aus - der Akku war leer.
Die Eltern versuchten schon am nächsten Tag die Polizei zu alarmieren, der Vater brach sofort eine Geschäftsreise in Kroatien ab - Boris F. war dafür bekannt, dass er seine Mutter immer informierte, wenn er nicht pünktlich zum Abendessen kommen konnte. Doch niemand wollte ihnen glauben, dass ihr Sohn nicht freiwillig verschwunden war. Bei Erwachsenen werden Vermisstenanzeigen erst nach 48 Stunden aufgenommen - die Vorschrift. Am Dienstag durchsuchte die Polizei die Wohnung der Mutter und Trons Zimmer und beschlagnahmte die PCs. Grund: Der verschwundene Hacker werde des „Computerbetrugs" verdächtigt. Die Beamten vergessen aber im allgemeinen Chaos das Netzteil des Laptops, was dazu führt, dass bis heute niemand die eventuell interessanten Innereien des Computers analysierte.
Einen Tag, bevor der Tote gefunden wurde, begann die 3. Mordkommisson zu ermitteln. Doch bis heute konnte sie weder herausfinden, wo sich Boris F. nach seinem Verschwinden aufgehalten hat noch irgendetwas über ein mögliches Motiv für Suizid. Der Vater des Hackers hat selbst nachgeforscht. Der Wirt einer Kneipe in Britz will Boris F. noch am Samstag, dem Tag seiner Verschwindens, gesehen haben. Tron habe mit zwei Männern "in Jacketts" zusammengesessen. Offenbar habe es Streit gegeben, denn Boris habe wenig geredet, sein Bier nicht getrunken und missmutig ausgesehen.
Ohne Erfolg blieb auch der Chaos Computer Club, der vollmundig eigene Ermittlungen ankündigte - ohne konkretes Ergebnis. Niemandem ist es gelungen diejenigen aufzuspüren, mit denen Tron in den Wochen vor seinem Tod zusammengearbeitet hat, an welchen Projekten er arbeitete und mit wem er Kontakt hatte. „Boris war sehr verschwiegen", sagt Andreas H., einer seiner engsten Freunde.
Der mysteriöse Tod des genialen Hackers wurde schnell zum Mythos und Anlass für wilde Spekulationen. Viele Zeitungen weltweit berichteten über den Fall, in Israel erschien die Yedioth Ahronoth mit einer vierseitigen Titelstory: "Der Tod des Hackerkönigs". Im Zimmer Trons wurde ein geheimnisvoller Lieferschein einer israelischen Firma gefunden, ohne Namen des Absenders. Das Unternehmen in Jerusalem ist Marktführer für Verschlüsselungsverfahren bei PayTV-Karten und gehört dem Medienzaren Rupert Murdoch.
Hans-Christian Schmid, Regisseur des Films "23", dessen Held Karl Koch, ebenfalls ein Hacker, vor zehn Jahren tot aufgefunden wurde, sagt, mit Zynismus könne man den Tod von Boris F. als ideale Werbekampagne für seinen Film ansehen. Die Fälle ähnelten sich, doch bei Tron glaube er an Mord, während er bei Karl Koch Selbstmord vermutete.
Interessant ist, dass sich niemand bisher die Mühe gemacht hat, im Internet die Szene zu erforschen, in der und für die Boris F. gearbeitet hat. Dutzende von Web-Seiten bieten illegale Software für PayTV an. Offenbar interessiert das die Anbeiter des Abonnement-Fernsehens wenig. Fast alle Chipkarten werden gehackt und als sogenannte MOSC (modified official satellite card) mit geänderten Algorithmen ins World Wide Web gestellt. Damit kann man gratis alles sehen, wofür die Moguln des PayTV wie Leo Kirch vom normalen Zuschauer Geld fordern.
Hier galt Boris aus Berlin-Britz als einer der Grössten. Hier verschaffte er sich Ruhm und Ehre. Der Kreis der Smart Card-Spezialisten ist elitär und klein. Man verkehrt nur per verschlüsselter E-mail und nennt sich "Dr. Overflow", "Chipmaster" oder eben "Tron". Es geht weniger um Geld als darum, den Entwicklern von Chipkarten in großen Konzernen zu zeigen, was eine Hacker-Harke ist. Die Griechen, Italiener und Araber in Berlin, die sich in dieser Szene auskennen, brauchen so auf ihr Gratis-Heimatfernsehen nicht verzichten.
Die Hacker werden umworben von Händlern verbotener Software, die die umprogrammierten Karten im Internet anbieten. Händler und Hacker verhalten sich wie der Wolf und Rotkäppchen. Einer der umtriebigsten Dealer und Kunde von Tron, ein Multimillionär aus der Nähe von Hamburg mit Doktor-Titel und standesgemäßem Rolls-Royce, sagt über Boris F. und dessen Freunde: "Das sind doch Hacker. Die Jungs haben vom Leben keine Ahnung. Ich zahle 100 Mark bei denen und verkaufe die Karten für das Zehnfache." Niemand zweifelt auch daran, dass ein ehemaliges regierungseigenes Unternehmen in Sofia, unstrittig vom russischen Geheimdienst gesponsort, in großem Stil Pay-TV- und andere Chipkarten verhökert. "Die laufen dort mit Pistoleros herum", sagt der belgische Händler "Joy", der sich in Bulgarien regelmäßig mit Nachschub versorgt. „Joy" war auch einer der Kunden Trons und zeigt sich über dessen Tod bestürzt. "Der war doch eine ehrliche Haut".
Das sagen alle. Auch ein ehemaliger Scotland-Yard-Mann, Ray A., der sich 1998 mit Tron im Kempinski traf und ihn für die israelische Firma NDS werben wollte. Der Berliner Hacker hätte ein interessantes Team kennengelernt: der "Chief Scientist" des Unternehmens, Yossi Z., hat in seiner Jugend versucht, Palästinenser in die Luft zu sprengen und erst im Knast sein Mathestudium beendet. Die Hacker-Headhunter hatten keinen Erfolg, denn Boris F. war am großen Geld nicht interessiert. Auch ein zweites und per Handy konspirativ verabredetes Treffen im Hilton blieb ohne Ergebnis. Tron wollte hacken, sonst nichts.
Der Berliner Mordkommisson blieben durch das gerichtsmedizinische Gutachten die Hände gebunden. Mord war so gut wie ausgeschlossen. Dennoch hegten auch die ausgefuchsten Kripo-Beamten leise Zweifel. Sonst hätte man gar nicht erst mit den Ermittlungen beginnen müssen, sondern die Akten gleich geschlossen. Doch Telefonate mit den in ganz Deutschland verstreuten Chipkarten-Hackern zeigen keine Ergebnisse. Die wollen nichts wissen, und wenn sie etwas wissen, sagen sie es nicht der Polizei. Khaled C. aus Bonn zum Beispiel, den noch niemand befragt hat. Der hat Boris verraten, wie man die Algorithmen von Chipkarten knackt, die die südafrikanische Firma Mindport produziert. Deren "Irdeto"-System setzt auch Leo Kirch ein. Mit ihm wollte Boris in der Nacht vor seinem Verschwinden unbedingt telefonieren - Khaled war nicht zu Hause. Oder Oliver K., der mit Frau, Kindern und Dutzenden von Hunden im Saarland an der Grenze zu Frankreich wohnt und mit einem Lasercutter im Wert von knapp 100000 Dollar die Leiterbahnen von Chipkarten mikrometergenau durchschießt. Bei ihm ließ sich Tron noch im letzten Sommer in die letzten Prozessor-Geheimnisse einweihen.
Vieles war jedoch ganz anders, als es in den Medien behauptet wurde. Tron wollte zwar einen Job und hat sich beworben. Doch geniale Einzelgänger sind in jungen dynamischen Firmen nicht gefragt. Man muss sich den Regeln anpassen. Und Boris F. war Legastheniker - Schreiben bereitete ihm große Mühe. Dafür hackte er auf die Tastatur seiner PCs ein, schneller als man gucken konnte. Diejenigen, die sich als seine Freunde ausgaben, entpuppten sich als Bekannte, die nicht die geringste Ahnung davon hatten, was ihren "Freund" in Wahrheit bewegte. "Alle haben ihn nur ausgenutzt", sagt Klaus Ruckschnat, Hauptkommissar und der Leiter der 3. Mordkommission. Und manchmal ist sogar etwas gelogen, wenn es ausnahmslos alle Zeitungen schreiben: Boris F. war auch kein Mitglied im Chaos Computer Club. Professor Clemens K., bei dem Tron an der TFH Wedding studierte, meint: "Er hat dort nicht die Freunde gefunden, die er gesucht hat."
Interview mit Hauptkommissar Klaus Ruckschnat, 44, Leiter der 3. Mordkommission des Berliner Landeskriminalamts
Warum ist es der Mordkommission nicht gelungen, das Notebook des toten Hackers Boris F. alias "Tron" zu untersuchen?
- Zunächst geht es immer darum, Spuren zu sichern, mögliche Zeugen ausfindig zu machen und zu befragen. Die beschlagnahmten Computer haben wir erst zu einem späteren Zeitpunkt untersucht. Ganz gleich, wie die Polizei technisch ausgestattet ist: Tötungsdeliktee am Menschen haben höchste Priorität. Wir können jederzeit externe Fachleute mit der Untersuchung beauftragen, wenn es nötig ist.
Boris F. hat sein Notebook nie aus den Augen gelassen. Wenn es Hinweise auf mögliche Täter oder deren Motive gäbe, wären die vielleicht dort zu finden.
- Damals erschien uns der Chaos Computer Club als kompetent, technische Unterstützung bei der Untersuchung des Notebooks zu leisten. Aufgrund der Tatsache, dass die scheiterten, habe ich jetzt meine Zweifel. Eine Mitglied des CCC ist mehrere Male hier gewesen. Ihm ist es aber nicht gelungen, den Computer in Betrieb zu nehmen. Es fehlte das Netzteil. Bei der Beschlagnahme der Geräte kurz nach dem Verschwinden Boris F.s ist in seinem Zimmer keines gefunden worden. Wir haben bei der Berliner Niederlassung der Herstellerfirma angefragt, dort verwies man uns an die Zentrale. Wenn es Indizien für Mord gegeben hätte, hätten wir uns natürlich weiter um das Netzteil bemüht.
Das gerichtsmedizinische Gutachten schließt eine Gewalttat definitiv aus. Warum haben Sie dann überhaupt noch ermittelt?
- Der Vater des Toten behauptete, es sei Mord gewesen. Dem wollten wir uns nicht entziehen, obwohl der gerichtsmedizinische Befund dagegen spricht. Deshalb ermittelten wir unter der Überschrift: Verdacht auf Mord. Ich muss mich an die Gesetze halten. Ich kann nicht einfach so irgendwelche Leute festnehmen und verhören, wenn es keine konkreten Verdachtsmomente gibt. Und die gab es nicht.
Warum hat die Polizei neun Monate ermittelt, wenn doch ohnehin nichts für Mord sprach?
- Wir haben eine Vielzahl kriminaltechnischer Untersuchungen durchführen lassen. Das brauchte seine Zeit. Das Ergebnis ist eindeutig: Es gibt keine Anzeichen für ein Verbrechen.
Der Gerichtsmediziner hat sich eindeutig festgelegt: Boris sei ungefähr vier Tage nach seinem Verschwinden gestorben. Niemand weiss jedoch, was er in dieser Zeit getan und wo er sich aufgehalten hat? Können Ärzte nicht irren?
- Ich habe nicht den absoluten Sachverstand, um das zu beurteilen. Der Gerichtsmediziner, der Boris F. obduziert hat, hat mein Vertrauen und hat internationale Erfahrung. Er war zum Beispiel im Auftrag des UN-Kriegsverbrechertribunals in Bosnien.
Der Mageninhalt des Toten bestand unstrittig aus einem Nudelgericht, das Boris F. am Samstag von seiner Mutter vorgesetzt bekommen hatte. Wenn Boris F., wie das gerichtsmedizinische Gutachten suggeriert, erst vier Tage später zu Tode gekommen, eine Mahlzeit aber schon nach einigen Stunden komplett verdaut ist - wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
- Das ist eine offene Frage. Damit muss ich leben. Man kann natürlich zwei Mal das Gleiche essen.
Am 22. Oktober fand ein Spaziergänger in der Nähe des U-Bahnhofes Berlin-Britz eine Leiche. Der Informatiker Boris F., 26, hing erhängt an einem Baum im kleinen Park südlich der Post. Der Gürtel um seinen Hals war mit einem Gartendraht verlängert und um einen Ast geknotet worden. Die Füße des Toten berührten den Boden, er hatte Schlüssel, Papiere, viel Geld und sein Handy in der Hosentasche.
Nach über einem Jahr der Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft im Herbst den Fall zu den Akten gelegt. Offizielles Fazit: Selbstmord. Das gerichtsmedizinische Gutachten legt sich eindeutig fest: kein Anzeichen eines gewaltsamen Todes. Der Todeszeitpunkt: nur einen Tag vor dem Auffinden der Leiche. Boris hatte noch ein Nudelgericht im Magen, offenbar das, was ihm die Mutter am Samstag aufgetischt hatte.
Doch niemand mag an Suizid glauben, weder die Eltern noch seine Freunde. Am wenigsten der Chaos Computer Club. Boris F. nannte sich „Tron" - nach dem gleichnamigen Film - und war hauptberuflich Hacker. Der Held des Kultstreifens gerät unfreiwillig in eine Cyberwelt und muss gegen ein böses „Masterprogramm" kämpfen. Hilfe naht schnell: der gute Held Tron terminiert die finstere Seite der Computermacht.
Der reale Tron galt als lebensfroher, direkter und offener Mensch. Er hatte Angebote für hochdotierte Jobs - und unstrittig dubiose Kontakte zu Geheimdienstlern und mafiösen Hintermännern. Die, die ihn kannten und sein Wissen einschätzen können, halten Boris F. alias Tron neidlos für „genial". Mehrere Hacker-Seiten im Internet sind ihm gewidmet. In der Presseerklärung des CCC zu Trons Tod heisst es, er sei "einer der fähigsten Hacker Europas" gewesen. Einen Suizid könne man sich nicht vorstellen. Angesicht der Umstände seines Verschwindens und Boris F.s aussergewöhnlichen Fähigkeiten gehe man "von einem Verbrechen aus".
Mysteriös war nicht nur das, woran Tron arbeitete: er simulierte Telefonkarten, baute als Diplomarbeit ein abhörsicheres ISDN-Telefon, manipulierte Smart Cards, die man braucht, um verschlüsselte Fernsehprogramme sehen zu können und brachte sein Handy dazu, beim Einschalten auf dem Display "Tron" anzuzeigen. Er galt der derjenige, der als Erster die d-box Leo Kirchs und den Sender Premiere gehackt hat.
Mysteriös war auch sein Verschwinden. Fünf Tage, bevor man seine Leiche fand, an einem Samstag gegen 14 Uhr, verliess er fröhlich das Haus seiner Mutter, mit der zusammen er wohnte. Sein Laptop, von dem er sich sonst nie trennte, war eingeschaltet. Er wolle nur kurz weg, um Geld für den Geburtstag der Oma anzuheben. Am Morgen hatte er noch Geschenkpapier gekauft. Ein Freund, der zufällig vorbeikam, begleitete ihn ein Stück. Der Automat der Bank dokumentiert das letzte Lebenszeichen des Hackers. Danach verschwand Tron. Sein Handy schaltete sich am Sonntag abends aus - der Akku war leer.
Die Eltern versuchten schon am nächsten Tag die Polizei zu alarmieren, der Vater brach sofort eine Geschäftsreise in Kroatien ab - Boris F. war dafür bekannt, dass er seine Mutter immer informierte, wenn er nicht pünktlich zum Abendessen kommen konnte. Doch niemand wollte ihnen glauben, dass ihr Sohn nicht freiwillig verschwunden war. Bei Erwachsenen werden Vermisstenanzeigen erst nach 48 Stunden aufgenommen - die Vorschrift. Am Dienstag durchsuchte die Polizei die Wohnung der Mutter und Trons Zimmer und beschlagnahmte die PCs. Grund: Der verschwundene Hacker werde des „Computerbetrugs" verdächtigt. Die Beamten vergessen aber im allgemeinen Chaos das Netzteil des Laptops, was dazu führt, dass bis heute niemand die eventuell interessanten Innereien des Computers analysierte.
Einen Tag, bevor der Tote gefunden wurde, begann die 3. Mordkommisson zu ermitteln. Doch bis heute konnte sie weder herausfinden, wo sich Boris F. nach seinem Verschwinden aufgehalten hat noch irgendetwas über ein mögliches Motiv für Suizid. Der Vater des Hackers hat selbst nachgeforscht. Der Wirt einer Kneipe in Britz will Boris F. noch am Samstag, dem Tag seiner Verschwindens, gesehen haben. Tron habe mit zwei Männern "in Jacketts" zusammengesessen. Offenbar habe es Streit gegeben, denn Boris habe wenig geredet, sein Bier nicht getrunken und missmutig ausgesehen.
Ohne Erfolg blieb auch der Chaos Computer Club, der vollmundig eigene Ermittlungen ankündigte - ohne konkretes Ergebnis. Niemandem ist es gelungen diejenigen aufzuspüren, mit denen Tron in den Wochen vor seinem Tod zusammengearbeitet hat, an welchen Projekten er arbeitete und mit wem er Kontakt hatte. „Boris war sehr verschwiegen", sagt Andreas H., einer seiner engsten Freunde.
Der mysteriöse Tod des genialen Hackers wurde schnell zum Mythos und Anlass für wilde Spekulationen. Viele Zeitungen weltweit berichteten über den Fall, in Israel erschien die Yedioth Ahronoth mit einer vierseitigen Titelstory: "Der Tod des Hackerkönigs". Im Zimmer Trons wurde ein geheimnisvoller Lieferschein einer israelischen Firma gefunden, ohne Namen des Absenders. Das Unternehmen in Jerusalem ist Marktführer für Verschlüsselungsverfahren bei PayTV-Karten und gehört dem Medienzaren Rupert Murdoch.
Hans-Christian Schmid, Regisseur des Films "23", dessen Held Karl Koch, ebenfalls ein Hacker, vor zehn Jahren tot aufgefunden wurde, sagt, mit Zynismus könne man den Tod von Boris F. als ideale Werbekampagne für seinen Film ansehen. Die Fälle ähnelten sich, doch bei Tron glaube er an Mord, während er bei Karl Koch Selbstmord vermutete.
Interessant ist, dass sich niemand bisher die Mühe gemacht hat, im Internet die Szene zu erforschen, in der und für die Boris F. gearbeitet hat. Dutzende von Web-Seiten bieten illegale Software für PayTV an. Offenbar interessiert das die Anbeiter des Abonnement-Fernsehens wenig. Fast alle Chipkarten werden gehackt und als sogenannte MOSC (modified official satellite card) mit geänderten Algorithmen ins World Wide Web gestellt. Damit kann man gratis alles sehen, wofür die Moguln des PayTV wie Leo Kirch vom normalen Zuschauer Geld fordern.
Hier galt Boris aus Berlin-Britz als einer der Grössten. Hier verschaffte er sich Ruhm und Ehre. Der Kreis der Smart Card-Spezialisten ist elitär und klein. Man verkehrt nur per verschlüsselter E-mail und nennt sich "Dr. Overflow", "Chipmaster" oder eben "Tron". Es geht weniger um Geld als darum, den Entwicklern von Chipkarten in großen Konzernen zu zeigen, was eine Hacker-Harke ist. Die Griechen, Italiener und Araber in Berlin, die sich in dieser Szene auskennen, brauchen so auf ihr Gratis-Heimatfernsehen nicht verzichten.
Die Hacker werden umworben von Händlern verbotener Software, die die umprogrammierten Karten im Internet anbieten. Händler und Hacker verhalten sich wie der Wolf und Rotkäppchen. Einer der umtriebigsten Dealer und Kunde von Tron, ein Multimillionär aus der Nähe von Hamburg mit Doktor-Titel und standesgemäßem Rolls-Royce, sagt über Boris F. und dessen Freunde: "Das sind doch Hacker. Die Jungs haben vom Leben keine Ahnung. Ich zahle 100 Mark bei denen und verkaufe die Karten für das Zehnfache." Niemand zweifelt auch daran, dass ein ehemaliges regierungseigenes Unternehmen in Sofia, unstrittig vom russischen Geheimdienst gesponsort, in großem Stil Pay-TV- und andere Chipkarten verhökert. "Die laufen dort mit Pistoleros herum", sagt der belgische Händler "Joy", der sich in Bulgarien regelmäßig mit Nachschub versorgt. „Joy" war auch einer der Kunden Trons und zeigt sich über dessen Tod bestürzt. "Der war doch eine ehrliche Haut".
Das sagen alle. Auch ein ehemaliger Scotland-Yard-Mann, Ray A., der sich 1998 mit Tron im Kempinski traf und ihn für die israelische Firma NDS werben wollte. Der Berliner Hacker hätte ein interessantes Team kennengelernt: der "Chief Scientist" des Unternehmens, Yossi Z., hat in seiner Jugend versucht, Palästinenser in die Luft zu sprengen und erst im Knast sein Mathestudium beendet. Die Hacker-Headhunter hatten keinen Erfolg, denn Boris F. war am großen Geld nicht interessiert. Auch ein zweites und per Handy konspirativ verabredetes Treffen im Hilton blieb ohne Ergebnis. Tron wollte hacken, sonst nichts.
Der Berliner Mordkommisson blieben durch das gerichtsmedizinische Gutachten die Hände gebunden. Mord war so gut wie ausgeschlossen. Dennoch hegten auch die ausgefuchsten Kripo-Beamten leise Zweifel. Sonst hätte man gar nicht erst mit den Ermittlungen beginnen müssen, sondern die Akten gleich geschlossen. Doch Telefonate mit den in ganz Deutschland verstreuten Chipkarten-Hackern zeigen keine Ergebnisse. Die wollen nichts wissen, und wenn sie etwas wissen, sagen sie es nicht der Polizei. Khaled C. aus Bonn zum Beispiel, den noch niemand befragt hat. Der hat Boris verraten, wie man die Algorithmen von Chipkarten knackt, die die südafrikanische Firma Mindport produziert. Deren "Irdeto"-System setzt auch Leo Kirch ein. Mit ihm wollte Boris in der Nacht vor seinem Verschwinden unbedingt telefonieren - Khaled war nicht zu Hause. Oder Oliver K., der mit Frau, Kindern und Dutzenden von Hunden im Saarland an der Grenze zu Frankreich wohnt und mit einem Lasercutter im Wert von knapp 100000 Dollar die Leiterbahnen von Chipkarten mikrometergenau durchschießt. Bei ihm ließ sich Tron noch im letzten Sommer in die letzten Prozessor-Geheimnisse einweihen.
Vieles war jedoch ganz anders, als es in den Medien behauptet wurde. Tron wollte zwar einen Job und hat sich beworben. Doch geniale Einzelgänger sind in jungen dynamischen Firmen nicht gefragt. Man muss sich den Regeln anpassen. Und Boris F. war Legastheniker - Schreiben bereitete ihm große Mühe. Dafür hackte er auf die Tastatur seiner PCs ein, schneller als man gucken konnte. Diejenigen, die sich als seine Freunde ausgaben, entpuppten sich als Bekannte, die nicht die geringste Ahnung davon hatten, was ihren "Freund" in Wahrheit bewegte. "Alle haben ihn nur ausgenutzt", sagt Klaus Ruckschnat, Hauptkommissar und der Leiter der 3. Mordkommission. Und manchmal ist sogar etwas gelogen, wenn es ausnahmslos alle Zeitungen schreiben: Boris F. war auch kein Mitglied im Chaos Computer Club. Professor Clemens K., bei dem Tron an der TFH Wedding studierte, meint: "Er hat dort nicht die Freunde gefunden, die er gesucht hat."
Interview mit Hauptkommissar Klaus Ruckschnat, 44, Leiter der 3. Mordkommission des Berliner Landeskriminalamts
Warum ist es der Mordkommission nicht gelungen, das Notebook des toten Hackers Boris F. alias "Tron" zu untersuchen?
- Zunächst geht es immer darum, Spuren zu sichern, mögliche Zeugen ausfindig zu machen und zu befragen. Die beschlagnahmten Computer haben wir erst zu einem späteren Zeitpunkt untersucht. Ganz gleich, wie die Polizei technisch ausgestattet ist: Tötungsdeliktee am Menschen haben höchste Priorität. Wir können jederzeit externe Fachleute mit der Untersuchung beauftragen, wenn es nötig ist.
Boris F. hat sein Notebook nie aus den Augen gelassen. Wenn es Hinweise auf mögliche Täter oder deren Motive gäbe, wären die vielleicht dort zu finden.
- Damals erschien uns der Chaos Computer Club als kompetent, technische Unterstützung bei der Untersuchung des Notebooks zu leisten. Aufgrund der Tatsache, dass die scheiterten, habe ich jetzt meine Zweifel. Eine Mitglied des CCC ist mehrere Male hier gewesen. Ihm ist es aber nicht gelungen, den Computer in Betrieb zu nehmen. Es fehlte das Netzteil. Bei der Beschlagnahme der Geräte kurz nach dem Verschwinden Boris F.s ist in seinem Zimmer keines gefunden worden. Wir haben bei der Berliner Niederlassung der Herstellerfirma angefragt, dort verwies man uns an die Zentrale. Wenn es Indizien für Mord gegeben hätte, hätten wir uns natürlich weiter um das Netzteil bemüht.
Das gerichtsmedizinische Gutachten schließt eine Gewalttat definitiv aus. Warum haben Sie dann überhaupt noch ermittelt?
- Der Vater des Toten behauptete, es sei Mord gewesen. Dem wollten wir uns nicht entziehen, obwohl der gerichtsmedizinische Befund dagegen spricht. Deshalb ermittelten wir unter der Überschrift: Verdacht auf Mord. Ich muss mich an die Gesetze halten. Ich kann nicht einfach so irgendwelche Leute festnehmen und verhören, wenn es keine konkreten Verdachtsmomente gibt. Und die gab es nicht.
Warum hat die Polizei neun Monate ermittelt, wenn doch ohnehin nichts für Mord sprach?
- Wir haben eine Vielzahl kriminaltechnischer Untersuchungen durchführen lassen. Das brauchte seine Zeit. Das Ergebnis ist eindeutig: Es gibt keine Anzeichen für ein Verbrechen.
Der Gerichtsmediziner hat sich eindeutig festgelegt: Boris sei ungefähr vier Tage nach seinem Verschwinden gestorben. Niemand weiss jedoch, was er in dieser Zeit getan und wo er sich aufgehalten hat? Können Ärzte nicht irren?
- Ich habe nicht den absoluten Sachverstand, um das zu beurteilen. Der Gerichtsmediziner, der Boris F. obduziert hat, hat mein Vertrauen und hat internationale Erfahrung. Er war zum Beispiel im Auftrag des UN-Kriegsverbrechertribunals in Bosnien.
Der Mageninhalt des Toten bestand unstrittig aus einem Nudelgericht, das Boris F. am Samstag von seiner Mutter vorgesetzt bekommen hatte. Wenn Boris F., wie das gerichtsmedizinische Gutachten suggeriert, erst vier Tage später zu Tode gekommen, eine Mahlzeit aber schon nach einigen Stunden komplett verdaut ist - wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
- Das ist eine offene Frage. Damit muss ich leben. Man kann natürlich zwei Mal das Gleiche essen.